digitalien.org — Stefan Knecht

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Positive Psychologie: noch mehr Narrative​

Die Positive Psychologie fusst auf vorhandenen Einsichten, auf Einsichten, Weisheiten und Lebenserfahrungen vorangegangener Generationen.

Welch teils unseligen Verwicklungen und Missverständnisse in der Folge entstanden betrachtet dieser Beitrag. War das Fach bis zur Seligman Inc. tatsächlich negativ belegt? Ein wenig laienhafte Zeitgeschichte und Drumherum.

Ein Problem konstruieren und Lösung anbieten

Die Positive Psychologie wurde ‘erfunden’ und geplant — sie hat sich mitnichten ergeben. Damit das einleuchtend ist, muss es zuvor ein Problem geben, das anspruchsvoll genug ist, um eine Lösung zu erfahren. 

Also identifizierte Seligman eine ‘Charakterkrise’ in den USA. Pauschalierende Schlagworte werden zu einem auf den ersten Blick plausiblen Spannungsbogen gehäkelt:

In den Ausführungen heisst es, ein reaktionär-rückschrittliches, auf Dysfunktionalität fixiertes Establishment produziere eine tiefe Kluft, die Konzentration der Mainstream-Psychologie auf negative Emotionen sei gefährlich für eine Wissenschaft, beschränke und verzerre die Theoriebildung. 

... der Hedonismus der 1960er Jahre, der Narzissmus der 1970er Jahre, der Materialismus der 1980er Jahre und die Apathie der 1990er Jahre.

Furthermore, psychology's negative focus has contributed to a culture of blame and victimology which may breed anger and violence and contribute to a pessimistic view of human nature.

Behauptungen, Meinung, Konjunktive und am Ende noch ein Schauferl drauf »contribute to a pessimistic view of human nature«. Nun könnte man prüfen, ob die Positive Psychologie auch alles hat, was eine sinnvolle Theorie braucht. Vielleicht in einem eigenen Beitrag.

War das so, gab es eine 'Charakterkrise’ in den USA?

Man kann die Situation vor der Jahrtausendwende auch nuancierter betrachten. Die Positive Psychologie bot eine umstandslose Lösung für das sehr weltliche Problem schrumpfender Märkte. Den konventionell arbeitenden Psychologen, Psychiatern und Therapeuten standen weniger Patienten gegenüber. 

Das lag an zwei Umständen: Antidepressiva und managed care.

Anfang der 1990er Jahre wurden in den USA massenweise Antidepressiva wie Prozac verordnet, die nach 10 Minuten Diagnose von jedem Hausarzt verschrieben werden konnten. 

Für ‘Managed Care’ und Versicherungsgesellschaften waren schnelle Pillen günstiger als traditionelle Psychotherapie. Die zuvor stetig nachwachsende Patientenschaft stagnierte. (Singal 2021)

Einschub: Was ist krank, was gesund? DSM vs ICD

Jede:r klinische Psychologe und Psychiater kennt das DSM, das Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders herausgegeben von der APA, dem psychiatrischen Berufsverband der USA. Ein periodisch aktualisierter Katalog aller Spielarten psychischer Beeinträchtigungen und Symptommuster. Die aktuelle Version ist DSM-5.
Das DSM bietet ein anschlussfähiges, eindeutiges Vokabular und Sprache und ermöglicht eine theorieunabhängige Beschreibung der Formen psychischen Krankseins. In den USA ist das DSM die Grundlage für die Abrechnungen von Leistungen.

Von der WHO herausgegeben und aktualisiert wird das International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD), in Version 11 ab Januar 2022, DSM Version 10 ist online einsehbar. Das ICD katalogisiert alle Krankheitsformen, nicht nur psychische.
Für Psychisches scheint das DSM differenzierter. Um Vergleichbarkeit über alle Länder herstellen zu können, wählt das ICD eine integrative, globale Perspektive.
An beiden Katalogen gibt es fundierte Kritik.

Die Positive Psychologie als line-extension

Die Positive Psychologie kam also zur rechten Zeit und bot eine line-extension weg von der konventionellen Therapie und hin zum ‘Life Coaching’ und damit breiteren Zielgruppen: nicht mehr nur die verstummten, ängstlichen, depressiv Kranken — den Gesunden könne man mit positiven Interventionen ein noch besseres Leben vermitteln. 

Wenn die einen mit Prozac und Tranquillizern in eine rosa Welt gebombt wurden, dann ist der wachsende Markt jener, in denen die Wohlstandsbürgerschaft genug Zeit und Muse hat, das eigene Glück noch weiter zu steigern.

Das passt alles unangenehm geschmeidig zum Timing und dem aktiven Planen des Geschäftsfeldes Positive Psychologie, wie angerissen in Die Positive Psychologie erfinden.

Und bevor Einträge ins Beschwerdebuch geschehen: das ist nun keine haarspalterische Konstruktion sondern folgt haarscharf der Gründungsgeschichte und dem Narrativ, das Seligman propagiert.

Instant chemical happiness

Dass Antidepressiva wie Prozac nicht viel besser wirken als ein Placebo kam erst um 2005 heraus.1»In 2006 – in a review that was much larger and more far-reaching than the recent one undertaken into Prozac – the US Food and Drug Administration reviewed all antidepressant trials, with data from 100,000 patients. The FDA reported that while five out of 10 people appeared to respond to the pills, four out of 10 responded to the placebo.« (Leader 2008) 

Verschrieben wurden sie dennoch, massenweise. Es war modisch und sozial akzeptiert. 

So häufig, dass Prozac 2005 im britischen Trinkwasser nachgewiesen werden konnte. (Im Trinkwasser, nicht Abwasser.) 

Während in den 60er Jahren in den USA Depression bei 50 von 1 Million Patienten diagnostiziert wurde, stieg die Diagnoserate in den 1990ern auf 100000 pro 1 Million. 

Dass diese Medikamente süchtig machen, war schon früher klar, doch das scheinbar geringere Übel.

Nutzt aber nix

Die aktuellste Metastudie zur Wirkung von Antidepressiva dauerte sechs Jahre und verglich veröffentlichte und bis dahin unveröffentlichte Daten aus 522 Studien mit über 116000 Teilnehmern zu einundzwanzig verschiedenen Antidepressiva. 

Das Ergebnis: Antidepressiva bieten keinen klinischen Vorteil, außer bei schwersten Depressionen. (Cipriani 2018)

Placebo bedeutet: das tief menschliche Glaubenssystem aktivieren. Zu Glauben hat einen mächtigen Einfluss darauf, wie wir uns fühlen.2Placebos lassen sich zu einer Lüge zurückverfolgen, die eine Krankenschwester während des Zweiten Weltkriegs erzählte. Sie assistierte dem Anästhesisten Henry Beecher, der unter schwerem Beschuss arbeitete. Als Morphium zu Ende ging, versicherte die Krankenschwester einem verwundeten Soldaten, dass er eine Spritze mit einem starken Schmerzmittel erhalten würde, obwohl ihre Spritze nur Salzwasser enthielt. Erstaunlicherweise linderte das die Schmerzen des Soldaten und verhinderte einen lebensgefährlichen Schock. (Silberman 2008)

An das Gute glauben macht bessere Laune, die Haltung macht einen Unterschied. Die eigene Wahrnehmung und Bewertung von Situationen zu ändern, scheint auch die Physiologie zu beeinflussen.

Perfiderweise funktioniert das ebenso bei kognitiven Verhaltenstherapien, die auch über die Krankenkassen bezahlt werden — nur eben ohne Pharmazeutika mit Nebenwirkungszetteln so lang wie Tischdecken.

Super Lösung! Was ist das Problem?

Eine Lösung zu haben, dann das Problem zu definieren ist eine rhetorische Volte und funktioniert bestens — vor zwanzig Jahren wie heute. Vermutlich auch in Zukunft: wir fallen gerne darauf hinein.

Ohne auch nur ansatzweise inhaltliche Nähe herzustellen: ähnlich dem Framing des politischen Rechtspopulismus. Zeige eine vermeintliche Wunde und liefere das Pflaster.

Generiere eine Charakterkrise und zeige den Ausweg.

Originär und originell?

Originell und originär war diese Salutogenese als Gegensatz zur angekreideten Pathogenese schon um die 2000er-Jahre nicht. 

Abraham Maslow hatte Gleiches 1947 formuliert, 1954 als humanistischen statt empirischen Ansatz niedergeschrieben. Auch erfand tatsächlich Maslow den Begriff einer positiven (statt unterstellt negativen) Psychologie und nicht die Seligman Inc. 

Als einer der Tippgeber ist er natürlich auch in ‘Character Strengths and Virtues’ genannt. Dazu kommt es gleich.

Der Unterschied: Seligman, Csíkszentmihályi, Peterson und die stetig wachsender Gefolgschaft wollen zuerst Wissenschaftler sein und empirisch zeigen, mit Daten, Experimenten, Statistik und Evidenznachweisen. So wie es andere wissenschaftliche Disziplinen auch halten. Forschung am Menschen hat nur andere Parameter und Fallstricke als etwa die geduldige Physik. Davon ein andermal.

Der USP der Positiven Psychologie

Die empirische Fundierung, die Einkleidung in Wissenschaftlichkeit war die Differenzierung, der USP (unique selling proposition): mit wissenschaftlichen Methoden glücklicher werden

Was kann da schief gehen?

We are, unblushingly, scientists first. The work we seek to support and encourage must be nothing less than replicable, cumulative, and objective" (...) "If empirical research fails to confirm the usefulness of the positions we advance, we hope to have the resilience to admit defeat and bow out with good grace.

Einiges kann da schief gehen. In jedwede Richtung.

'Auf den Schultern von Riesen stehen' — The wisdom of the crowd.

Nach dem Manifest und coming-out ab 2000 und über drei Jahre sammelte ein großes Team zusammen, was in der bisherigen Menschheitsgeschichte über Glück und Glücklichwerden bekannt war.

Alles wurde in Betracht gezogen: Texte von Konfuzius und Sokrates, Whitman, Freud, Maslow, zeitgenössische Einsichten aus den Sozialwissenschaften bis zu Graffiti und kommerzielle Grußkarten. (Gibbon 2020, 3) 

Ergebnis: ein 814-Seiten Buch ‘Character Strengths and Virtues’ (CSV) – Charakterstärken und Tugenden (Peterson und Seligman 2004)

Das CSV ist also ein Kondensat bisheriger Einsichten der Menschheitsgeschichte. Es zeigt sechs Kerntugenden (virtues) — Weisheit, Mut, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung, Transzendenz. Daraus abgeleitet 24 Stärken (strengths), u.a. Tapferkeit, Bescheidenheit, Ausdauer, Vitalität, Neugier, soziale Intelligenz, Spiritualität, Selbstkontrolle, Führungsqualität und — nach offenbar intensiver Debatte der Redaktionsgruppe — auch Humor.

Dass Abraham Maslow in den bunten Reigen der Glücktippgeber aufgenommen wurde ist pikant: er hat die Pyramide der Bedürfnisse weder gebaut noch so gemeint, wie sie heute wahrgenommen wird. Weiter dazu hier

Values in Action (VIA)

Teil des Buches ist ein Selbsttest, ein Online-Fragebogen ‘Values in Action (VIA)’, heute ‘VIA Inventory of Strengths (VIA-IS)’. Mit 240 Fragen werden individuelle Stärken gemessen und auf einer 5-stufigen Skala angeordnet. Die Ergebnisse sollen helfen, bessere Selbstkenntnis und persönliche Entwicklungsperspektiven zu geben. Je höher der Wert, um so mächtiger die individuelle Stärke. Die Stärken stärken statt Schwächen zu kompensieren. 

Das Buch ‘Character Strengths and Virtues’ ist also ein programmatisches Gegenmodell zur Katalogisierung von Schwächen und Krankheiten in DSM und IDC — siehe den Einschub weiter oben.

Mehr als 11 Millionen Menschen haben VIA-IS durchlaufen. Kostenlos kann man das auf einem von der Uni Zürich betriebenen Portal und gleich Dutzende weitere Selbsttests absolvieren. 

Unter vielen anderen den Satisfaction-With-Life-Fragebogen (SWL) für die subjektive Zufriedenheit mit dem eigenen Leben im Grossen und Ganzen, der Wellbeing Index (IWI) zur Zufriedenheit mit dem eigenen Leben und nationalen Gegebenheiten, den Orientations to Happiness-Fragebogen (OTH) zu Lebensstilen um im Leben Zufriedenheit und Erfüllung zu erlangen.

Das kann man alles absolvieren, muss man nicht.

Kritik an VIA-IS

Kritik gab und gibt es. Uneinheitliche Faktorenanalysen zur Trennschärfe und Kritik zur Testkonstruktion, -validität und kulturellen Übertragbarkeit. Die (Charakter-)Stärken seien überlappend oder unscharf mit den Tugenden korreliert, Faktorenanalysen liefen auf weniger als die sechs postulierten Tugenden hinaus usw. usf.3(Miller 2019 und Ruch et al. 2019)

Es gibt erstaunlich wenig Forschung zu den Grundlage der (VIA-) Klassifizierung, etwa zur Frage, ob alle Charakterstärken tatsächlich moralisch wertvoll sind oder ob selektive Charakterstärken auch komplett unausgeprägt sein können.4(Stahlmann und Ruch 2020)

Verändern sich subjektive Stärken im Lebenslauf? VIA-IS gibt eine Test-Retest Korrelation nach vier Monaten mit größer als 70% an. Das heisst: macht Mensch den gleichen Test nach vier Monaten erneut, dann haben 70% das gleiche Ergebnis. In der Testkonstruktion gelten Werte ab 70% als akzeptabel, ab 80% als gut.

Selbstversuch!

Probieren Sie doch den VIA-IS selbst — und am Besten mehrfach. Experimenteller Vorschlag: den ersten Durchlauf bedienen Sie aufrichtig. Bei weiteren Durchläufen versuchen Sie, Ihre Antworten so zu wählen, dass ein idealisiertes Selbstbild entsteht, also so, wie Sie gerne wären.

(Ich kenne mich nicht gut aus mit der Konstruktion von Fragebögen. Ein wenig weiss ich von Biases, strukturellen Denkfehlern und über Effekte in Befragungen unausgesprochene Erwartungen zu bedienen. Belegen kann ich gar nichts, ein seltsam seichtes Gefühl bleibt.)

Peer-Review, anyone?

Peterson und Seligman stellten zu Validitäts- und Reliabilitättests die Rohdaten nicht bereit. 5Anmerkung: Nochmal gesucht, nichts gefunden. Kann bedeuten, dass die Suche nicht breit/tief genug war — oder: da ist nichts. 

Das heisst: ein peer-review kann nicht geschehen, andere Forschende können mangels Daten nicht nachprüfen oder das Experiment replizieren. 

Erinnerungshalber: Reliabilität meint, wie genau ein Instrument misst. Validität beschreibt, ob ein Instrument auch tatsächlich misst, was es zu messen vorgibt.

Das erinnert an ähnliche Gemengelage bei einem der Flaggschiffe der Positiven Psychologie, dem ‘Strath Haven Positive Psychology Curriculum’es ist bis heute nicht möglich, die Aussagen systematisch zu überprüfen wenn die Rohdaten nicht zugänglich gemacht werden.

Sollte man wegen dieser kleinen Hickser gleich das ganze Verfahren abschreiben?

Ach woher. Freundlich-skeptisch wachsam bleiben sollte ausreichen.