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digitalien.org — Stefan Knecht
Nach vorliegenden empirischen Daten sind die groß angelegten Programme der Positiven Psychologie wie das ‘Penn Resilience Program’ (PRP) oder das ‘Strath Haven Positive Psychology Curriculum’ bestenfalls unwirksam.
Vielleicht sind die kleinen Interventionen tauglich und führen zu mehr Glück, Happiness oder subjective well-being?
Zuvor liegen noch ein paar größere Brocken im Weg. Einer hat die Form eines Schmetterlings.
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Die ‘broaden-and-build’ Theorie als eine der Grundsäulen der Positiven Psychologie formuliert: positive Emotionen tragen bei zur Entwicklung eines breiten Denk- und Handlungsrepertoires. Ein breites Denk- und Handlungsrepertoire wiederum stärkt die Widerstandsfähigkeit gegen künftige emotionale Rückschläge. (Fredrickson, 1998, 2001, 2004)
Die Quantität, Häufigkeiten oder Intensitäten von positiven/negativen Emotionen sollten also einen Unterschied machen. Ein Wegepunkt einer empirischen Validierung war die ‘critical positivity ratio’:
(...) a universal-invariant ratio between positive to negative emotions that serves as a unique tipping point between flourishing and languishing in individuals, marriages, organizations, and other human systems across all cultures and times.
Fredrickson und Losada 2005, Seiten 133-134, 678, 684, 685 Tweet
Die ‘critical positivity ratio’ behauptet also, es gäbe ein …
»universelles, kulturunabhängiges und unveränderliches Verhältnis zwischen positiven und negativen Emotionen und einen Wendepunkt zwischen dem Gedeihen oder Erlahmen von Individuen, Ehen, Organisationen und anderen menschlichen Systemen (…)«
Hui, das ist schon recht steil. Die ‘critical positivity ratio’ als ein Naturgesetz im Range der Gravitation oder der biogenetischen Grundregeln ist schon ambitioniert. Der originale Artikel schliesst mit den Worten …
Our discovery of the critical 2.9 positivity ratio may represent a breakthrough.
Fredrickson und Losada 2005 Tweet
Da muss man sich schon sehr sicher sein, dass alles passt. Schier unglaublich.
Bei einem Verhältnis von mehr als 2,9013 (aufgerundet) 3 positiven zu einer negativen Emotion geschehe demnach ein Aufblühen, bei einem kleineren Wert ein Dahinvegetieren. (Anthony 2014)
Damit die ‘critical positivity ratio’ schlüssig und anfassbar wird, bediente sich Fredrickson bei einem mathematischen Modell aus der Meterologie. Die Animation zeigt einen Lorenz Attraktor, ein »vereinfachtes mathematisches Modell für die atmosphärische Konvektion von Luftströmungen. Für bestimmte Parameter und Anfangsbedingungen zeigt es chaotische Lösungen.«
Inhaltlich beschreibt das Modell (stark verkürzt!), dass bei jedem physikalischen System ohne perfekte Kenntnis der Ausgangsbedingungen und selbst bei einer winzigen Störung der Luft durch den Flügelschlag eines Schmetterlings unsere Fähigkeit zur Vorhersage des künftigen Verlaufs immer versagen wird.
Von diesem 3:1-Verhältnis und seiner Visualisierung im Wendepunkt des ge-hijackten Lorenz-Attraktors wurde behauptet, es sei ebenjener, der die genauen emotionalen Koordinaten identifiziert, die ‘aufblühende’ von ‘verkümmernden’ Menschen unterscheide.
Das ist komplizierte mathematische Materie. Weder der Autor dieses Stückes (und vermutlich auch nicht seine Leser) können die Güte prüfen. Müssen wir auch nicht – das haben andere kompetent erledigt.
In dichter Folge wurde dieses dann aufgerundete 3:1-Verhältnis im Range eines positiv-psychologischen Naturgesetzes betrachtet und breitflächig medial verbreitet: hat man dreimal mehr positive als negative Emotionen, dann läuft das Leben, yeah!
Ein Schmetterling ist für die Kommerzialisierung um einiges besser als süße Katzenbilder: erst die mediale Multiplikation hält gute-Nachrichten-Maschinen am Laufen.
Stutzig macht die Verkürzung eines komplexen Zusammenhanges auf eine einzige Zahl, eine Zahl mit erstaunlicher Präzision.
Alles, was Leben ausmacht, Liebe, Glück, Gelingen, Enttäuschungen, Scheitern, Sorgen, Zufall, Umwelt, Kultur, Gene … all das schnurrt zusammen auf die Zahl 2,9013, aufgerundet 3.
Unglaublich!
Unglaublich und falsch.
So unglaublich und falsch, dass Nick Brown sich ans Sezieren machte.
Ein Lorenz-Graph wie der oben gezeigte wurde mitsamt der Glücksthese irgendwann in den 2010er Jahren in einem Postgraduiertenkurs für angewandte Positive Psychologie in London gezeigt.
Blöd nur, dass da ein Nick Brown dabei war seinen Master zu machen. Dieser Mr. Brown hatte nur zu gewinnen — anders als seine Kommilitonen stand er nicht am Beginn einer Berufslaufbahn sondern am Ende: er war frühpensioniert und unabhängig, hatte also nichts zu verlieren.
So unglaublich und falsch erschien Nick Brown das positiv-psychologische Tanzkärtchen, dass er sich ans Sezieren machte.
the existence of a critical minimum positivity ratio of 2.9013 is entirely unfounded
Brown 2013 Tweet
Das Papier von Fredrickson und Losada (2005) ging da längst durch die Decke, wurde rezipiert, intensiv zitiert und kommerziell popularisiert.
‘Ausgeschlachtet’ könnte man sagen. An Schmetterlingen ist nur nicht so arg viel dran.
In Selbsthilfebüchern, -kursen, positivem Coaching und Vorträgen steckt jedoch eine Menge Geld, das nach neuen Zielen sucht:
Both Seligman and Fredrickson are hired speakers. One website lists Seligman's booking fee at between $30,000 and $50,000 an engagement. In this new science of happiness, it seemed that all the leading proponents were happy.
Anthony 2014 Tweet
Ordentliche Tarife sind unverdächtig. Medienstars, gut verdrahtete Prominente und Politiker spielen in derselben Liga. Bei jenen fragt auch kaum jemand nach der Substanz weil es nicht darum geht, was gesagt wird, sondern wer spricht — bei Wissenschaftlern ist das eher selten. Insbesondere, wenn die Aussagen substanzlos sind.
Es ist nicht so, dass die Ungereimtheiten niemandem zuvor aufgefallen wäre. Es wollte nur niemand hören und dann womöglich zurückrudern. Bis jener Nick Brown stutzig wurde und sich hineindrillte in die Zusammenhänge und falschpositiven Aussagen.
Die Datengrundlage für Fredricksons 3:1-Schmetterling war etwa die qualitative Analyse einer Reihe von einstündigen Sitzungen in einer Laborumgebung mit genau acht Personen. Die führten Gespräche berichteten von ihren subjektiven Erfahrungen. (Brown 2013). Auch mit positiv-wohlwollendem Blick ist das kein belastbares Datenfundament für einen ‘Durchbruch’. (Fredrickson 2005)
(Die ganze, lesenswerte und überaus unterhaltsame Geschichte ist in einem langen Artikel des Guardian aufgezeichnet (Anthony 2014).)
Dass die Mathematik hinter dem Schmetterlingsmodell nicht stimmt, akzeptierte Barbara Fredrikson. Verstanden habe sie das ohnehin nicht. Ihre Theorie der ‘critical positivity ratio’ hält sie weiterhin aufrecht, und viel mehr: die empirischen Belegen seien noch viel stärker als ehedem. (Fredrickson 2013 und Anthony 2014)
Kurios: eine fundamentale, nicht verhandelbare Eigenschaft wissenschaftlichen Arbeitens ist die Selbstkorrektur bei Irrtümern. Bei der ‘critical positivity ratio’ handelt es sich offenkundig um einen Irrweg. Selbstkorrektur geschieht nicht — im Gegenteil wird das empirisch nicht Bewiesene als Glaubenssatz weiter propagiert.
But social psychology is full of theorising and much of it goes unquestioned.
Anthony 2014 Tweet
Das scheint für die berühmteren Vertreter der Positiven Psychologie nicht zu gelten.
Vielleicht arbeiten diese gar nicht wissenschaftlich?
Science is when you change your mind. Religion is when you won't.
— Rob England 🦓 (@rob_england) December 20, 2021
We all follow what we believe.
— Eb (@eikonne) December 18, 2021
We run external information through our belief system.
Sometimes that information changes our belief system.
Other times it reinforces our belief system.
Bleiben Sie dran und diesem kleinen Blog gewogen — bald wird geprüft, wie stichhaltig die Aussagen der positiven Psychologie zum genetischen Anteil an persönlichem Glück oder subjective well-being sind.
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Nicht alle unten stehenden Quellen werden auch in diesem Beitrag referenziert.
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