digitalien.org — Stefan Knecht

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Gewolltes Nichtwissen: unsichtbare Elefantenherden

Sind wir stets neugierig[1] und bestens informiert, um rationale Entscheidungen zu treffen? Oder sind wir Menschen doch keine ‘Informavoren’[2][3] Wie kann es sein, dass wir absichtlich Informationen vermeiden um — von lästigen Fakten ungestört — längst gefasste Meinungen zu pflegen? Erstaunlich oft schauen Menschen absichtlich weg, vermeiden Informationen um in bewusster Ignoranz selbstdienliche Entscheidungen zu treffen. Im Glauben verharren obwohl Fakten dagegen sprechen? Finsterstes Mittelalter!

Informationsvermeidung oder epistemische Abstinenz[4] ist kein Problem, so lange das Suchen nach Wahrheiten nur die eigene Person und niemand sonst betrifft. Berühren unterinformierte Entscheidungen allerdings andere, dann wird gewolltes Nichtwissen problematisch. So gibt es etwa ziemlich treffsichere Tests, die vorhersagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich ein frisch vermähltes Paar innerhalb von 14 Jahren Ehe wieder trennen wird.[5] Wenn Rosenblätter regnen, wer will das im Standesamt schon wissen?

Eine Metastudie[6] fasst die Ergebnisse aus zweiundzwanzig Untersuchungen zusammen. Mehr als sechstausend Teilnehmenden sollten widersprüchliche ethische Entscheidungen treffen. Sie wussten dabei nicht, welche Folgen das für andere Personen hat. Würden sie sich altruistisch verhalten, wenn sie vor ihrer Entscheidung die Konsequenzen für andere Menschen kennen? Fast 40% der Teilnehmer wollten im Experiment die Konsequenzen ihrer Entscheidung für andere nicht wissen und zahlten sogar moderate Beträge um diese Informationen nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Absichtlich unterinformiert zu bleiben, wie der Vogel Strauss den Kopf noch ein Stückchen weiter in den Sand zu bohren[7], hat offenbar einen Wert.

Wie ist absichtliches Nichtwissen-Wollen erklärbar?

Mindestens sechs Funktionen absichtlichen Ignorierens werden unterschieden:[8]

  • Vermeidung negativer Emotionen — nur ein geringer Teil der Betroffenen wollten Einsicht in ihre eigenen Stasi-Akten[9]
  • Spannung und Überraschung halten — in einem Krimi den Mörder vorher zu kennen, verdirbt den Film
  • strategischer Schutz — »davon habe ich nichts gewusst« z.B. in Korruptionsfällen wie ENRON oder Watergate
  • vorurteilsfreie Entscheidungen treffen können — im blind auditioning spielen Interpreten für die Jury unsichtbar, ihr Aussehen hat keinen Einfluss auf die Bewertung
  • als Strategie zum subjektiven Informationsmanagement — Selektivität in der Nachrichtenwahrnehmung blendet irritierende Informationen aus
  • Erwerb neuer Fertigkeiten — als Anfänger ständig mit Profis verglichen zu werden wirkt demotivierend auf das eigene Lernen

Das englische ignorance steht für einen Zustand, in dem eine Person die Frage verstanden hat und die Antwort nicht kennt obwohl sie diese umstandslos herausfinden könnte.[1] Es handelt sich also um bekannte Unbekannte, nicht um unbekannte Unbekannte, wie Donald Rumsfeld, ehemaliger US-Verteidigungsminister in einem seltenen philosophischen Ausnahmezustand formulierte.[10] [11]

Beispiele gibt es im Dutzend, zwei herausgegriffen: die Vermeidung kostenloser Informationen zu den Lebensbedingungen von Nutztieren führt zu einem Anstieg des Fleischkonsums um 16 Prozent[12], Menschen, die in Regionen mit vielen Geflüchteten leben, vermeiden Nachrichten über Schutzsuchende.[13]

»How many times can a man turn his head, pretending he just doesn’t see?« — Bob Dylan in ‘Blowin’ in the Wind’ (1963)[14]

Dieses gewollte Nichtwissen oder willful ignorance ist in der Ökonomie, in Unternehmen, der Politik und Soziologie breit untersucht und lässt sich doch nur schwer mit Theorien vereinbaren, die davon ausgehen, dass Menschen ein Bedürfnis nach Gewissheit, nach Vermeidung von Mehrdeutigkeit oder Schlüssigkeit haben.[15] [16] Nicht-wissen-wollen ist ein harter Kontrast zu Rational-Choice-Theorien, die uns als rationale Entscheider und algorithmische Kosten-Nutzen-Ökonomen verstehen. Erklärbar scheint das Phänomen mit der vom Ökonomen Herbert Simon formulierten bounded rationality, nach der uns ein ‘gut genug’ als Entscheidungsgrundlage völlig ausreicht,[17] wir also nicht allesalles wissen müssen, um entscheiden zu können.[18] Besser noch trifft die Neue Erwartungstheorie von Kahneman und Tversky die Lage. Sie beschreibt, wie Entscheidungsfindung unter Risiko geschieht, wenn Alternativen sich in Eintrittswahrscheinlichkeit und möglichem Gewinn unterscheiden:[19] wir bevorzugen in Entscheidungssituationen einen hohen doch unsicheren Verlust gegenüber einem sicheren geringeren Verlust.[20] Wir wertschätzen, was wir besitzen, erheblich höher, als Dinge ausserhalb unseres Zugriffs.[21] Für entscheidungsrelevante Informationen scheint das Gleiche zu gelten: was wir zu wissen glauben, zählt mehr, als was wir weiters in Erfahrung bringen sollten.

Weshalb ist das so?

Es kann taktisch entscheidend sein, wahrheitsgemäß sagen zu können: »Von diesen Vorgängen habe ich nichts gewusst«. Im ENRON-Prozess 2006, dem grössten Korruptionsprozess der US-Geschichte, hatten die Angeklagten höchste Zuversicht in ihre Immunisierung durch absichtliches Nichtwissen.[22] Erfolglos: sie wurden trotz einer Besonderheit im US-amerikanischen Recht verurteilt, nach der Informationen über frühere Verurteilungen des Angeklagten als character evidence nicht in einen aktuellen Prozess eingeführt werden dürfen. Platziert etwa ein druckvoller Ankläger diese unzulässigen Informationen dennoch, dann muss der Richter die Geschworenen auffordern, diese Informationen zu ignorieren. Das kann natürlich nicht gelingen: einmal gehört, können Informationen nicht mehr ungehört gemacht werden — das geben unsere Gehirne nicht her. »Denken Sie nicht an rosa Elefanten!« — Prozesse des Vergessens geschehen überwiegend automatisch[23], absichtlich vergessen klappt nicht, absichtlich nicht-wissen-wollen hingegen ganz gut.

Das erscheint alles plausibel. Sofern die Konsequenzen subjektiver Entscheidungen nur die Entscheiderin betreffen, gibt es kein Dilemma. Wenn Dritte betroffen sind, sehr wohl — etwa bei Strukturreformen oder Arbeits- und Organisationsverfahren, die in Unternehmen viele hunderte Mitarbeitende unmittelbar beeinflussen.

Der ‘Elefant im Raum’ als Metapher für das Unausgesprochene, das jeder weiss, doch niemand benennen will, ist kein Einzelgänger — eher eine ebenso ausgewachsene wie unsichtbare Herde. In Unternehmen ist das in schöner Regelmässigkeit zu beobachten: eine Reform folgt auf die nächste, Prozesse, Regeln werden entschieden und Konsequenzen über die unmittelbar eigene Sphäre der Akteure hinaus ausgeblendet. Genau das ist willful ignorance oder epistemische Abstinenz[4]: man könnte wohl wissen, welche Konsequenzen Reorganisationen und Massnahmen haben. Das absichtliche nicht-wissen-wollen macht corporate orgflix erst amüsant: ‘Vorwärts immer, rückwärts nimmer’[24] — treten ignorierte Konsequenzen ein, dann sind Beraterinnen längst beim nächsten Kunden und Reformer mit noch wichtigeren Verbesserungen betraut.

 

Aber wer will das schon wissen?

* * *
  1. Krutsch, Artur, und Kerstin Skork. „‚Gewolltes Nichtwissen kann als kulturelle Fähigkeit verstanden werden‘ – Interview mit Ralph Hertwig, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, und Christoph Engel, Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern“, 5. Mai 2021. URL.  ↩
  2. Gigerenzer, Gerd, und Rocio Garcia-Retamero. „Cassandra’s Regret: The Psychology of Not Wanting to Know.“ Psychological Review 124, Nr. 2 (März 2017): 179–96. DOI.  ↩
  3. Miller, G. A. (1983). Informavores. In F. Machlup & U. Mansfield (Eds.), The study of information: Interdisciplinary messages (pp. 111–113). New York, NY: Wiley-Interscience. — zitiert nach Gigerenzer und Garcia-Retamero. 2017  ↩
  4. Herrmann, Sebastian. „News Fatigue: Will ich nicht wissen – besonders, wenn viel auf dem Spiel steht“. Süddeutsche.de, 2.11.2023. URL. — zitiert werden Ralph Hertwig und Christoph Engel  ↩
  5. Gottman, John Mordechai, und Robert Wayne Levenson. „The Timing of Divorce: Predicting When a Couple Will Divorce Over a 14‐Year Period“. Journal of Marriage and Family 62, Nr. 3 (August 2000): 737–45. DOI.  ↩
  6. Vu, Linh, Ivan Soraperra, Margarita Leib, Joël Van Der Weele, und Shaul Shalvi. „Ignorance by Choice: A Meta-Analytic Review of the Underlying Motives of Willful Ignorance and Its Consequences.“ Psychological Bulletin 149, Nr. 9–10 (September 2023): 611–35. DOI.  ↩
  7. Der Strauss macht das natürlich nicht! Ein Mythos seit dem Mittelalter; Wikipedia  ↩
  8. Hertwig, Ralph, und Christoph Engel. „Homo Ignorans: Deliberately Choosing Not to Know“. Perspectives on Psychological Science 11, Nr. 3 (Mai 2016): 359–72. DOI.  ↩
  9. Hertwig, R., & Ellerbrock, D. (2022). Why people choose deliberate ignorance in times of societal transformation. Cognition, 229, Article 105247. DOI — Von jenen Personen, die annahmen, es gäbe Stasiakten zu ihnen selbst wollten nur 28% (277 von 973) auch Akteneinsicht und die Wahrheit über ihre Bespitzelung selbst sehen.  ↩
  10. „There are known knowns; there are things we know we know. We also know there are known unknowns; that is to say we know there are some things we do not know. But there are also unknown unknowns – there are things we do not know we don’t know.“ „Es gibt bekannte Bekannte, es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Wir wissen auch, dass es bekannte Unbekannte gibt, das heißt, wir wissen, es gibt einige Dinge, die wir nicht wissen. Aber es gibt auch unbekannte Unbekannte – es gibt Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.“ ist der bekannteste Ausspruch des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, den er während einer Pressekonferenz im Februar 2002 im Vorfeld des Dritten Golfkriegs bekannt sagte und der in der Öffentlichkeit wie Fachliteratur seit dem zu Risikoabschätzungen verwendet. YouTube Video  ↩
  11. Gigerenzer et al. 2017, Definition S. 181  ↩
  12. Epperson, Raphael, und Andreas Gerster. „Information Avoidance and Moral Behavior: Experimental Evidence from Food Choices“. SSRN Electronic Journal, 2021. DOI.  ↩
  13. Freddi, Eleonora. „Do People Avoid Morally Relevant Information? Evidence from the Refugee Crisis“. The Review of Economics and Statistics, 16. August 2021, 1–16. DOI.  ↩
  14. Dylan, Bob. ‘Blowin’ in the Wind’ TV-Mitschnitt, 1963, YouTube-Video  ↩
  15. Hogarth, R. (1987). Judgment and choice (2nd ed.). New York, NY: Wiley. Janis, I. L., & Mann, L. (1977). Decision making. New York, NY: Free Press. zitiert nach [2]
  16. Kruglanski, A. W. (2004). The psychology of closed mindedness. New York, NY: Psychology Press. zitiert nach [2]
  17. Simon, Herbert A. „A Behavioral Model of Rational Choice“. The Quarterly Journal of Economics 69, Nr. 1 (Februar 1955): 99. DOI. S. 99 »Broadly stated, the task is to replace the global rationality of economic man with the kind of rational behavior that is compatible with the access to information and the computational capacities that are actually possessed by organisms, including man, in the kinds of environments in which such organisms exist.«  ↩
  18. ‘Good enough to try’ ist ein beliebter Textbaustein agiler Methoden- und Organisationsentwicklung. Sinngemäß meint es ‘Wir haben zwar keine Ahnung, was genau nach diesem Spielzug geschieht, müssen uns aber bewegen weil Stillstand keine Alternative ist.’ Siehe auch Erich Honeckers Motto unter [24]
  19. Kahneman, Daniel, und Amos Tversky. „Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk“. Econometrica 47, Nr. 2 (März 1979): 263. DOI.  ↩
  20. Kahneman, Daniel. Thinking, Fast and Slow. London: Allen Lane, 2011. Die Prospect Theory ist auf S. 278–288 gut erläutert.  ↩
  21. Kroeber-Riel, Werner, und Andrea Gröppel-Klein. Konsumentenverhalten. 10., Überarbeitete, Aktualisierte und Ergänzte Auflage. Vahlens Handbücher der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. München: Verlag Franz Vahlen, 2013. -Die neue Erwartungstheorie in Bezug zu irrationalem Konsumentenverhalten  ↩
  22. Simon, William. „Wrongs of Ignorance and Ambiguity: Lawyer Responsibility for Collective Misconduct“. Yale J. on Reg. 22 (1. Januar 2005): URL  ↩
  23. Schooler, Lael J., und Ralph Hertwig. „How Forgetting Aids Heuristic Inference.“ Psychological Review 112, Nr. 3 (Juli 2005): 610–28. DOI. — zitiert nach Gigerenzer und Garcia-Retamero. 2017  ↩
  24. von Erich Honecker als „in der Gründerzeit der DDR geprägte Losung“ zitiert in der Festansprache zum 40. Jahrestag der DDR, 7. Oktober 1989, URL  ↩