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digitalien.org — Stefan Knecht
Informationsvermeidung oder epistemische Abstinenz[4] ist kein Problem, so lange das Suchen nach Wahrheiten nur die eigene Person und niemand sonst betrifft. Berühren unterinformierte Entscheidungen allerdings andere, dann wird gewolltes Nichtwissen problematisch. So gibt es etwa ziemlich treffsichere Tests, die vorhersagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich ein frisch vermähltes Paar innerhalb von 14 Jahren Ehe wieder trennen wird.[5] Wenn Rosenblätter regnen, wer will das im Standesamt schon wissen?
Eine Metastudie[6] fasst die Ergebnisse aus zweiundzwanzig Untersuchungen zusammen. Mehr als sechstausend Teilnehmenden sollten widersprüchliche ethische Entscheidungen treffen. Sie wussten dabei nicht, welche Folgen das für andere Personen hat. Würden sie sich altruistisch verhalten, wenn sie vor ihrer Entscheidung die Konsequenzen für andere Menschen kennen? Fast 40% der Teilnehmer wollten im Experiment die Konsequenzen ihrer Entscheidung für andere nicht wissen und zahlten sogar moderate Beträge um diese Informationen nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Absichtlich unterinformiert zu bleiben, wie der Vogel Strauss den Kopf noch ein Stückchen weiter in den Sand zu bohren[7], hat offenbar einen Wert.
Wie ist absichtliches Nichtwissen-Wollen erklärbar?
Mindestens sechs Funktionen absichtlichen Ignorierens werden unterschieden:[8]
Das englische ignorance steht für einen Zustand, in dem eine Person die Frage verstanden hat und die Antwort nicht kennt obwohl sie diese umstandslos herausfinden könnte.[1] Es handelt sich also um bekannte Unbekannte, nicht um unbekannte Unbekannte, wie Donald Rumsfeld, ehemaliger US-Verteidigungsminister in einem seltenen philosophischen Ausnahmezustand formulierte.[10] [11]
Beispiele gibt es im Dutzend, zwei herausgegriffen: die Vermeidung kostenloser Informationen zu den Lebensbedingungen von Nutztieren führt zu einem Anstieg des Fleischkonsums um 16 Prozent[12], Menschen, die in Regionen mit vielen Geflüchteten leben, vermeiden Nachrichten über Schutzsuchende.[13]
»How many times can a man turn his head, pretending he just doesn’t see?« — Bob Dylan in ‘Blowin’ in the Wind’ (1963)[14]
Dieses gewollte Nichtwissen oder willful ignorance ist in der Ökonomie, in Unternehmen, der Politik und Soziologie breit untersucht und lässt sich doch nur schwer mit Theorien vereinbaren, die davon ausgehen, dass Menschen ein Bedürfnis nach Gewissheit, nach Vermeidung von Mehrdeutigkeit oder Schlüssigkeit haben.[15] [16] Nicht-wissen-wollen ist ein harter Kontrast zu Rational-Choice-Theorien, die uns als rationale Entscheider und algorithmische Kosten-Nutzen-Ökonomen verstehen. Erklärbar scheint das Phänomen mit der vom Ökonomen Herbert Simon formulierten bounded rationality, nach der uns ein ‘gut genug’ als Entscheidungsgrundlage völlig ausreicht,[17] wir also nicht allesalles wissen müssen, um entscheiden zu können.[18] Besser noch trifft die Neue Erwartungstheorie von Kahneman und Tversky die Lage. Sie beschreibt, wie Entscheidungsfindung unter Risiko geschieht, wenn Alternativen sich in Eintrittswahrscheinlichkeit und möglichem Gewinn unterscheiden:[19] wir bevorzugen in Entscheidungssituationen einen hohen doch unsicheren Verlust gegenüber einem sicheren geringeren Verlust.[20] Wir wertschätzen, was wir besitzen, erheblich höher, als Dinge ausserhalb unseres Zugriffs.[21] Für entscheidungsrelevante Informationen scheint das Gleiche zu gelten: was wir zu wissen glauben, zählt mehr, als was wir weiters in Erfahrung bringen sollten.
Weshalb ist das so?
Es kann taktisch entscheidend sein, wahrheitsgemäß sagen zu können: »Von diesen Vorgängen habe ich nichts gewusst«. Im ENRON-Prozess 2006, dem grössten Korruptionsprozess der US-Geschichte, hatten die Angeklagten höchste Zuversicht in ihre Immunisierung durch absichtliches Nichtwissen.[22] Erfolglos: sie wurden trotz einer Besonderheit im US-amerikanischen Recht verurteilt, nach der Informationen über frühere Verurteilungen des Angeklagten als character evidence nicht in einen aktuellen Prozess eingeführt werden dürfen. Platziert etwa ein druckvoller Ankläger diese unzulässigen Informationen dennoch, dann muss der Richter die Geschworenen auffordern, diese Informationen zu ignorieren. Das kann natürlich nicht gelingen: einmal gehört, können Informationen nicht mehr ungehört gemacht werden — das geben unsere Gehirne nicht her. »Denken Sie nicht an rosa Elefanten!« — Prozesse des Vergessens geschehen überwiegend automatisch[23], absichtlich vergessen klappt nicht, absichtlich nicht-wissen-wollen hingegen ganz gut.
Das erscheint alles plausibel. Sofern die Konsequenzen subjektiver Entscheidungen nur die Entscheiderin betreffen, gibt es kein Dilemma. Wenn Dritte betroffen sind, sehr wohl — etwa bei Strukturreformen oder Arbeits- und Organisationsverfahren, die in Unternehmen viele hunderte Mitarbeitende unmittelbar beeinflussen.
Der ‘Elefant im Raum’ als Metapher für das Unausgesprochene, das jeder weiss, doch niemand benennen will, ist kein Einzelgänger — eher eine ebenso ausgewachsene wie unsichtbare Herde. In Unternehmen ist das in schöner Regelmässigkeit zu beobachten: eine Reform folgt auf die nächste, Prozesse, Regeln werden entschieden und Konsequenzen über die unmittelbar eigene Sphäre der Akteure hinaus ausgeblendet. Genau das ist willful ignorance oder epistemische Abstinenz[4]: man könnte wohl wissen, welche Konsequenzen Reorganisationen und Massnahmen haben. Das absichtliche nicht-wissen-wollen macht corporate orgflix erst amüsant: ‘Vorwärts immer, rückwärts nimmer’[24] — treten ignorierte Konsequenzen ein, dann sind Beraterinnen längst beim nächsten Kunden und Reformer mit noch wichtigeren Verbesserungen betraut.
Aber wer will das schon wissen?