digitalien.org — Stefan Knecht

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Agile Profession und Scharlatanerie

Stefan Kühl hat in einem Interview (Journal Supervision 1/2021) schön zerlegt, in welchem unleidigen Verhältnis Profession und Scharlatanerie zueinander stehen.

Zusammengefasst und auf ‘agile coaching’ geschielt stimmt die Analyse ebenso. Ohne Professionalisierung ist der Beliebigkeit die Tür geöffnet.

Es ist kein böser Wille darin, nach einem Wochenendkurs und ein paar Multi-Choice-Fragen ein Zertifikat zu vergeben. ‘Scrum Master’, ‘Product Owner’ … was auch immer gerade marktgängig ist oder bessere Verkäuflichkeit zu suggerieren vermag.

»Jede:r Berufstätige nimmt für sich in Anspruch, professionell zu arbeiten.« antwortet Kühl im Interview.

Etwas so gut machen, wie man es kann. Nicht unbedingt so gut, wie andere es könntenProfessionelles Arbeiten und Profession sind also zwei verschiedene Dinge:

Profession ist in der Lage, einen Markt zu schließen – und zwar dadurch, dass sie die Ausbildung stark standardisiert und ein Berufsverband darüber entscheidet, wer diese Tätigkeit ausüben kann.

Und genau da mangelt es im agilen Bubble: weder ist die Ausbildung standardisiert noch gibt es es einen Berufsverband, der Qualität sichern könnte. 

Es gibt wohl scrum.org, die Scrum Alliance und auch Legionen von Trainingsanbieter mit generischen Zertifikaten und Teilnahmebestätigungen. Doch ist das keine Profession und noch weniger ein Garant für Fähigkeit oder Kompetenz.

Personennähe = Erfolgsunsicherheit

(...) es gibt keine sicheren Erfolgsrezepte in der Beratung, sondern nur so etwas wie 'bewährte Vorgehensweisen', an denen man sich orientieren kann.

»Bewährte Vorgehensweisen« sind Rezepte, einfache Vorgehensweisen und -sequenzen, die in einfachen Situationen sich als funktionierend zeigten. Einfach → Kompliziert → Komplex … scheint nahe liegend, ist es nicht.

In ‘Transformationen’ oder komplizierteren Softwarevorhaben ist nichts Einfaches. 

Weil wir es mit Menschen und sozialen Systemen zu tun haben, muss jede sich von allen anderen, allenfalls anekdotisch beschriebenen Situationen unterscheiden.

Es kann also keine ‘best practice’ geben, allenfalls eine ‘past practice’. Doch ebenjene sind es, die in geschwinden Zertifikationen vermittelt werden. Viel mehr ist auch kaum möglich: kommt Können doch vom ‘Ahnung haben’ — erahnen oder besser: wissen, welche Interventionen in ähnlichen Lagen zu welcher Art Verhaltensänderungen führten.

Es ist eine Sache, durch Versuch und Irrtum herauszufinden, welchen Effekt bestimmte Interventionen haben. Aber eine andere Sache ist es, den wissenschaftlichen Wirkungsnachweis zu erbringen, dass eine bestimmte Intervention gerade diesen und keinen anderen Effekt hat, welche Mechanismen am Werk sind und wie die Tools und Techniken funktionieren.

Ohne Professionalisierung bleibt 'agile Coaching' eine Bonanza der Ahnungslosigkeit

… eine Goldader für Beratungsfirmen und latent gefährlich für die auftragnehmenden Unternehmen: ein Zertifikat sagt bestenfalls nicht viel über die Kompetenz der Person aus, in dynamischen sozialen Situationen adäquat zu handeln.

»Können ist machen mit Ahnung« + Erfolgsunsicherheit + Methodenvarianz

Ein Eiertanz am offenen Herzen.

Wie sagt Kühl: »Nur wenn man so etwas vorschreibt, etabliert man ein Hemmnis gegen berufliche Selbstüberschätzung.«

Das ‘so etwas’ ist die Professionalisierung, ein Berufsverband, Qualitätsmerkmale — und eine Barriere gegen Scharlatanerie.

Quellen

Böning, Uwe. 2015. Coaching jenseits von Tools und Techniken. Heidelberg: Springer.

Kühl, Stefan, Heiko Schulz (Interview). 2021. ‘Scharlatane müssen leider draussen bleiben’. Journal Supervision. PDF.