Was ist dran an beliebten Glaubenssätzen des Change Management?
Wie filtert man aus einem Meer markiger Sprüche, was tatsächlich wahr und belegt ist?
In diesem Beitrag geht es darum, populäre Statements zu
change’, Wandel’, ‘Veränderung’ auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen: was davon ist untersucht, was kommt heraus und welche der kernigen Statements sind eher
fake facts?
Scheitert tatsächlich ein Dreiviertel aller Change-Initiativen?
Dieser satten Behauptung fehlt das Fundament. Die wenigen empirischen Untersuchungen kranken an lauen Begriffsdefinitionen, der Eingrenzung des Sachgebietes und methodischen Schwächen.
Wenigstens der Ursprung der kolportierten ‘siebzig Prozent’ ist halbwegs klar und stammt aus einem anderen Kontext als die Verallgemeinerung zu
alle Change-Initiativen. Hammer & Champy gaben 1994 diese 70%-Fehlrate als ihre
subjektive Einschätzung für ‘Reengineering-Vorhaben’ an. Auch ein Widerruf half nicht:
»Unfortunately, this simple descriptive observation has been widely misrepresented and transmogrified and distorted into a normative statement (…)« — Hammer & Stanton, 1995
Falsche Informationen werden durch Wiederholung weder richtiger noch verschwinden sie freiwillig. Die Missinterpretation einer subjektiven Einschätzung wurde durch wiederholt ungeprüfte Zitate zu einer universellen Wahrheit.
Evidenz ist ein scheues Tierchen
Evidenz in der Medizin: das Cochrane-Verfahren
In der evidenzbasierten Wirkungsprüfung medizinischer Interventionen gibt es das Cochrane-Verfahren. Zu einer Indikation oder Therapie ergibt dies einen umfassenden Überblick über Forschungsergebnisse und Metaanalysen randomisiert kontrollierter klinischen Studien, dem Goldstandard wissenschaftlicher Arbeit zu einem Zeitpunkt. Das kann sich ändern, wenn neue Daten veröffentlicht werden.
Für die Sozial-, Management- und Organisationsforschung sind harte Evidenzen schwieriger zu erbringen: Interventionen in sich ständig verändernden sozialen Systeme wie Unternehmen es sind, widersetzen sich kontrollierter Randomisierung. Sozialforscher verwenden andere Methoden.
Evidenz in der Organisationswissenschaft: REA, rapid evidence assessment
Für Management- und Organisationsmethoden kann es kein Cochrane-Verfahren geben. Das nicht-kommerzielle ’Center for Evidence-Based Management’ (CEBM) versucht Annäherungen an die methodisch saubere Prüfung von Managementmoden. Der
runner up in der Wahrheitsprüfung ist die aufwändige und hartnäckige Methode eines Rapid Evidence Assessments (REA).
Akademische Beiträge werden objektiv und reproduzierbar gefiltert um nach einer gründlichen Bewertung des Inhaltes Rückschlüsse auf ursächliche Wirkungen ziehen zu können. Anders als eine Literaturübersicht ist ein REA transparent, überprüfbar, reproduzierbar und eliminiert strukturelle Denkfehler (nach Bestätigung der eigenen Sicht suchen, gegenläufige Ergebnisse ignorieren und viele Dutzende weitere
biases). Als Daten fliessen Informationen, Fakten und ebenso nicht-systematische Praxiserfahrungen aus publizierter und unabhängig prüfbarer wissenschaftlich durchgeführter Forschung ein. Diese Daten können eine Behauptung, Annahme oder Hypothese unterstützen oder eben widerlegen.
Ziel einer REA ist es, quantitativ und qualitativ bewertbar zu machen, ob eine Erkenntnis generalisierbar ist oder nur unter spezifischen Randbedingungen gilt. Das Verfahren ist aufwändig und zeitintensiv und alles andere als
rapid: in zwölf standardisierten Schritten werden systematisch Primärstudien in 5 Güteklassen von A+ bis D qualifiziert. A+ wäre ein systematischer Review mit einer Metaanalyse randomisiert-kontrollierter Studien, D wäre eine Querschnittstudie mit geringster Verallgemeinerung. Alleinstehende Fallstudien werden aussortiert.
Ergebnis einer REA ist eine nachvollziehbar ausgewogene Bewertung dessen, was in der wissenschaftlichen Literatur über eine Intervention, einen Anspruch oder ein praktisches Problem zu einem Zeitpunkt bekannt ist. Ändert sich die Datenlage, dann kann sich auch die Bewertung ändern.
Fact or Fake? Was ist haltbar an beliebten Glaubenssätzen zu ‘Veränderung’, welche Aussagen haben schwache Grundlagen?
Diesen mühsamen Weg einer Faktenprüfung für populäre Aussagen im ‘Change Management’ gingen 2017 mehrere Autoren. Als Datengrundlage wurden 563 populäre Genre-Bücher nach ihrem Amazon-Verkaufsrang ausgewählt. Aussortiert wurden mangels interner Validität
one-trick-ponies und Bücher, in denen prominente Management-Gurus ihre Meinung ausbreiten, doch Daten schuldig bleiben. Die verbleibenden 23 Büchern hatten drei Eigenschaften gemeinsam, sie …
- konzentrieren sich darauf, wie man Organisationen verändert und nicht, was zu verändern ist,
- beziehen eine fundierte Position und sind keine überblicksartige Handbücher,
- bieten Anleitungen und Rat für Praktiker
Dieser erstaunlich kleine Rest ist, was Praktikerinnen brauchen:
Wirksame Interventionen, die in Veränderungssituationen zuverlässig wirken sollten.
Kleiner Selbsttest: Welche dieser 18 Aussagen zu ‘Change Management’ sind evident?
Aus den verbleibenden, nur mehr 23 ‘Change Management’-Büchern wurden 18 Aussagen kondensiert, ein Ausschnitt:
Menschen ändern sich nicht, wenn es keine Dringlichkeit (sense of urgency, Kotter) gibt. (3)
In Änderungszuständen ist ein transformativer Führungsstil effektiver als ein transaktionaler. (5)
Veränderungen in Unternehmen braucht Führungsrollen mit starker emotionaler Intelligenz. (6)
Die Unternehmenskultur hat einen Effekt auf die (ökonomische) Unternehmensleistung. (14)
Wenn Sie selbst Veränderungen in Unternehmen planen, anstossen oder durchführen, dann sind diese 18 wiederkehrenden Aussagen wahrscheinlich bekannt:
Welche Aussagen sind evident und mit solider Forschung unterlegt, welche nicht?
Bevor Sie weiterlesen: markieren Sie zuerst, ob ein Statement eher wahr – unsicher – eher falsch ist.
Aussage, statement |
eher wahr |
unsicher |
eher falsch |
1. Siebzig Prozent aller Veränderungsinitiativen scheitern. |
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keine Evidenz |
2. Eine klare Vision ist für einen erfolgreichen Wandel unerlässlich. |
klare Belege |
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3. Menschen werden sich nicht verändern, wenn kein Gefühl der Dringlichkeit besteht. |
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keine Evidenz |
4. Für erfolgreichen Wandel ist Vertrauen in die Führung erforderlich. |
kleine bis mittlere positive Effekte |
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5. Bei der Bewältigung des Wandels ist ein transformationaler Führungsstil effektiver als ein transaktionaler. |
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sowohl transaktional wie transformative Führung hat kleinen Einfluss |
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6. Organisatorischer Wandel erfordert Führungskräfte mit ausgeprägter emotionaler Intelligenz . |
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7. Die Unterstützung durch Vorgesetzte ist entscheidend für den Erfolg des Wandels. |
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8. Um den Wandel in Organisationen zu verwirklichen, ist eine starke Führungskoalition erforderlich. |
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Schwache Effekte, uneinheitlich: Vertrauen scheint ein wirksamer Prädiktor |
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9. Die Fähigkeit der Mitarbeiter zur Veränderung bestimmt die Fähigkeit der Organisation zur Veränderung. |
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kaum Untersuchungen, definitorisch unsicher |
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10. Partizipation ist der Schlüssel zum erfolgreichen Wandel. |
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uneinheitliche, eher kleinere Effektstärken |
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11. Widerstand gegen den Wandel ist dem Erfolg des Wandels abträglich. |
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kaum valide Daten, eher keine Evidenz |
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12. Ein fairer Veränderungsprozess ist wichtig, um erfolgreiche Veränderungen zu erreichen. |
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fairer Prozess hat mittleren bis großen positiven Einfluss (level A). |
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13. Die Veränderung der Organisationskultur ist zeitaufwändig und schwierig. |
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bei 150+ Definitionen von ‘Organisationskultur’ sind Studien nicht mehr sinnvoll vergleichbar |
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14. Die Organisationskultur hängt mit der Leistung zusammen. |
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(wie 13) |
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15. Die Festlegung von Zielen in Verbindung mit Feedback ist ein wirksames Instrument für Führungskräfte im Wandel. |
konsistente Effekte auf hohem Niveau (level A) |
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16. Das Engagement für den Wandel ist ein wesentlicher Bestandteil einer erfolgreichen Veränderungsinitiative. |
bestätigt auf mittlerem Niveau |
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17. Finanzielle Anreize sind ein wirksames Mittel, um Veränderungen zu fördern und die Leistung zu verbessern. |
bestätigt auf mittlerem Niveau |
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18. Selbstverwaltete Teams erzielen bessere Ergebnisse bei der Umsetzung von Veränderungen als traditionell verwaltete Teams. |
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moderat positive Effekte – nicht generalisierbar |
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Zwei dieser 18 Aussagen herausgegriffen:
Sense of urgency? Keine eindeutigen Belege.
»Menschen werden sich nicht verändern, wenn kein Gefühl der Dringlichkeit besteht.« — Kotter, Leading Change, 1996
Als universelle Aussage
ist Kotter’s signature quote des sense of urgency nicht haltbar, nicht durch Daten fundiert. Schwache Hinweise gibt es wohl, doch nicht als Eingangsbedingung: es muss nicht
zuerst die Hütte brennen
damit etwas geschieht.
Zeitlicher Druck oder Zeitknappheit hat einen positiven Einfluss auf kooperatives Verhalten in Entscheidungssituationen und wirkt unter experimentellen Bedingungen leistungssteigernd (level A).
Angst hingegen befördert
kurzfristiges Denken und Handeln — was bei nachhaltigen Veränderungen in Unternehmen kaum ein sinnvolles Ziel sein kann. Eine wahrgenommene Bedrohung ist nur dann auch individuell wirksam, wenn die Selbstwirksamkeit einer Person ebenfalls hoch ist. Oder: bin ich willens und fähig meine eigene Situation zu ändern — dann aktiviert eine wahrgenommene Bedrohung. Sonst nicht. Das hört sich zu Recht an wie die ‘gelernte Hilflosigkeit’, mit der Martin Seligman sich wissenschaftliche Sporen verdiente, ehe er in die Positive Psychologie abdriftete.
Selbstorganisation? Muss nicht besser sein.
»
Self-managing teams perform better in realizing change than traditionally managed teams.« ist der Kern der agilen Erzählung und das Glaubensbekenntnis der Aglisten oder »… lass’ die Leute machen, räume Hindernisse aus dem Weg, vertraue und sorge für gute Umgebungsbedingungen — dann wird alles besser.«.
Ist das so? Die validen Untersuchungen dazu bringen vage Ergebnisse. Es gibt wohl Belege für
spezifische Arbeits- und damit Sozialsituationen, in denen sich selbst organisierende Gruppen oder Teams bessere Leistungen bringen:
»(…) the positive effect on performance is greatest for self-managing teams dealing with high-tech novelty and radical innovation« — Patanakul & Lynn (2012)
Die Verallgemeinerung zu
‘Selbstorganisation ist immer besser als organisiert werden’ ist nicht haltbar: auf den Kontext kommt es an. In
Situationen radikaler Innovation mit brandneuen Technologien ist Selbstorganisation belegt besser als direktiv organisiert werden.
Scheitern nun 70% aller Change-Initiativen?
Niemand kann eine wahre Antwort geben.
Für die Unternehmenspraxis wäre schon nützlich zu wissen, welche Interventionen oder Praktiken in welcher Art Situationen zuverlässig erwünschten Verhaltensänderungen führen.
So lange das der Fall nicht ist: Selber denken hilft — und freundlich skeptisch bleiben.
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