Psychological Safety? Sozialkapital!

Psychological Safety ist die individuelle Sicherheit, auch Dinge tun und sagen zu können, mit denen man ein persönliches Risiko und somit Verletzlichkeit eingeht. In einer Situation psychologischer Sicherheit ist nichts tabu und es gibt nichts, wofür man lächerlich gemacht werden kann. Das lässt Menschen ihr Bestes geben und Unternehmen lernen: es gibt keine Angst, bei Fehlern oder abweichenden Meinungen dumm dazustehen. Das Phänomen scheint universell, kulturneutral und unabhängig von Industrien oder Branchen. In der Umkehrung wird vielleicht schnell deutlich, worum es geht: fehlt psychologische Sicherheit, dann kommt es zu ‘organisatorischem Schweigen’, zu employee silence — ‘Dienst nach Vorschrift’ und eher früher als später: Stillstand. Das will man nicht.

Die Zusammenhänge gelten im Handwerk, in der Medizin und Pflege ebenso wie in der Wissensarbeit oder im Cockpit. Der Begriff ‘psychologische Sicherheit’ wurde 1965 in Beobachtung von Veränderungsprozessen von Edgar Schein und Warren Bennis eingeführt. 1990 zeigte William Kahn, dass psychologische Sicherheit die Einsatzbereitschaft von Menschen in ihrer Arbeit fördert. Amy Edmundson erforscht seit den 1990er Jahren, wie Teams interagieren und was es braucht um besser zu werden. 1996 beobachtete sie in Krankenhäusern, dass bessere Teams nicht mehr Fehler machten, sondern ein gruppendynamisches Klima hatten, in dem es in Ordnung war, über Fehler zu sprechen.

»Psychological safety is the shared belief that one will not be punished or humiliated for speaking up with ideas, questions, concerns or mistakes.« — Amy Edmondson

2011 popularisierte Edmondson psychological safety nach den Ergebnissen eines aufwändigen Feldversuches bei Google. Das zentrale Ergebnis dort war: psychologische Sicherheit macht gute zu noch besseren, zu performanten Teams. Für Unternehmen ist es also förderlich, wenn die Investition in ‘die Besten’ noch weiter in Teams skaliert um in Summe optimale Leistungen zu bringen. Der Kern psychologischer Sicherheit ist persistentes wechselseitiges Vertrauen, durch das man sich nicht scheut man selbst zu sein, auch unangenehme Fragen zu stellen, Probleme und Risiken zu benennen und Fehler zu machen und daraus zu lernen. In Teams kann jede:r sich äußern und andere nachvollziehen. Dieses Sozialkapital wird über gemeinsame Erfahrungen in einem geteilten Bezugsrahmen verdient und es ist binär: man vertraut jemandem oder nicht. Es braucht also in Unternehmen ein gemeinsames ‘Etwas’, an dem im Team gearbeitet wird. Und ein bisschen Vertrauen geht ebenso schlecht wie ein bisschen schwanger sein. Sozialkapital oder psychologische Sicherheit ist damit der Schlüsselfaktor für Effektivität — was nicht bedeutet, dass man ‘nett’ sein muss oder dass es keine Konflikte gibt: vielmehr ist Vertrauen das wirksame Mittel um ständig zu lernen um sich an verändernde Umstände anzupassen.

Die Abwesenheit von psychological safety ist employee silence: der GAU jeder Organisation. Fehlt Vertrauen als Sozialkapital, dann kommt es zwangsläufig zu “organisatorischem Schweigen”, zu employee silence: Mitarbeitende gehen in die innere Emigration.

’Dienst nach Vorschrift’ ist der GAU, der schlimmste anzunehmende Unfall. Nur mehr exakt machen, was angewiesen ist und präzise alle Vorschriften und Prozesse beachten führt über zügige Verlangsamung zu Stillstand. Nichts geht mehr. ‘Dienst nach Vorschrift’ ist ein mächtiges Mittel im industriellen Arbeitskampf und doch noch lange kein Streik — vielmehr das ernsthafte Ausreizen des Organisationsmodelles.

»(…) the withholding of any form of genuine expression about the individual’s behavioral, cognitive and/or affective evaluations of his or her organizational circumstances to persons who are perceived to be capable of effecting change or redress.« — Morrison & Milliken (2000)

Was bedeutet das? Psychologische Sicherheit und das Erwirtschaften von Sozialkapital klappt nur bei gleichzeitiger Operationalisierung einer Fehlerkultur: Fehler entstigmatisieren und daraus lernen. Lieber neue Fehler machen, die alten haben nicht so gut funktioniert. Was soll geschehen, wenn trotz aller Planung, Um- und Aufsicht Fehler geschehen? Was ist das erwartete Verhalten wenn etwas daneben geht? Die Antwort ist so einfach wie aufwändig: Fehler offen ansprechen, Regeln in Frage stellen und vor allem aus Fehlern offen lernen, sie eben nicht unter den Teppich kehren. Je mehr unter dem Teppich liegt, um so größer wird die Beule und die Organisation lernt nichts. Und allem voran: gute Experimente wagen, wenn in Turbulenz nicht eindeutig ist, was der richtige nächste Schritt sein kann.

»In einer Kommunikationskultur, in der man Probleme offen anspricht, wird zwanglos kommuniziert; über Regeln darf diskutiert und gestritten werden. (…) Wertschätzung entsteht mit emotionaler Unterstützung und Toleranz gegenüber Fehlern. (…) Es gibt einen Zusammenhang zu Sinnerfüllung: Unternehmen mit dieser Kultur werden mit steigendem Arbeitsengagement belohnt.« — Weber, Unterrainer und Höge. 2016

Kann psychological safety, Sozialkapital, Vertrauen aktiv hergestellt, produziert werden? Individuelle psychologische Sicherheit ist schwer messbar und kontextabhängig. Indizien kann man einsammeln und zu interpretieren versuchen, etwa mit den folgenden Hinweisen:

7 Fragen stellen: Haben wir psychologische Sicherheit im Team?​

In ihrem 2020 erschienenen Buch bietet Edmondson sieben Fragen, die auf einer Likert-Skala beantwortet werden können. Es geht um persönliche Haltungen, hier um Zustimmung/Ablehnung zu einer Aussage. Die Skala hat 7 Stufen, eine 4 wäre eine neutrale weder-/noch-Haltung. Diese Fragen werden einem Team vorgelegt und jede:r beantwortet sie still und anonym.

  • Wenn ich im Team einen Fehler mache, wird er oft gegen mich verwendet. (R)
  • Die Mitglieder des Teams können Probleme und schwierige Fragen ansprechen.
  • Personen im Team lehnen manchmal andere ab, weil sie anders sind. (R)
  • In diesem Team ist es sicher, ein Risiko einzugehen.
  • Es ist schwierig, andere Teammitglieder um Hilfe zu bitten. (R)
  • Niemand in diesem Team würde absichtlich gegen meine Bemühungen handeln.
  • Bei der Arbeit mit anderen werden meine Fähigkeiten wertgeschätzt und genutzt.

Bei den vier positiv formulierten Fragen deutet individuelle Zustimmung auf größere, bei negativ formulierten (reverse) Fragen zeigt Ablehnung höhere psychologische Sicherheit. R-Fragen werden invertiert ausgewertet (1 für 7, 6 für 2 usw.). In der Summe entsteht ein über die Gruppe normalisiertes Ergebnis. Wenn alle Teilnehmenden einverstanden sind, dann können die Einzelergebnisse nebeneinander gestellt und verglichen werden. Sind auffällige Abweichungen zu erkennen? Dann genauer hinschauen: es scheint divergente Sichten zu geben.

Wie kann Sozialkapital erwirtschaftet werden?

In einem kurzen Vortrag von Amy Edmondson 2014 folgen drei Hinweise (ab 7’30‘’), wie Psychological Safety erreicht werden kann:

  • Arbeit als Lernaufgabe verstehen lassen, nicht als Ausführung (execution)
  • die eigene Fehlbarkeit anerkennen und kommunizieren
  • Neugierde vorleben 

Unmittelbar ‘actionable’ ist das nicht. Die Hinweise zielen auf eher tiefere Schichten und Gewohnheiten, auf subjektives Verhalten, das nicht ohne weiters veränderbar scheint.

Wie kann Verhalten verändert werden?

Für ‘Führungskräfte’, Personen, die über ihre Einordnung in eine Hierarchie Leitungs- (und im Sprachgebrauch synonym) und Führungsrollen einnehmen, dann ist das Verändern von Verhalten zuerst reflexiv: das eigene Verhalten verändern. Schwer genug! Mehr dienen als anordnen, eher servant leader sein als Boss. Einhalten, was man selbst ankündigt, accountable sein. Für alle anderen Personen ohne designierte Führungsrolle bedeutet das: exakt das Gleiche. 

Der 3er-Kanon für vertrauensvolles Arbeiten

1 — Jede Stimme ist willkommen

Produktiv aufeinander reagieren. »Danke für Deinen Beitrag.« Ohne Wenn und ohne Aber. Das kann anstrengend werden, wenn schon alles gesagt ist — nur noch nicht von jedem. Moderation dämpft umsichtig, wenn die Aussage des Vorredners ohne weiteren Beitrag wiederholt wird — doch aufmerksame Wertschätzung ist die Grundlage für Vertrauen.

2 — schlau scheitern

Ein intelligenter Fehler in einem ambitionierten Experiment bringt nützliche Erkenntnisse, die vorher niemand hatte. Zu wissen, wie etwas nicht geht, hat Wert: es reduziert Unsicherheit und kann neue Chancen bieten, die zuvor nicht ersichtlich waren. Dumme Fehler wurden bereits anderswo gemacht. Sie wurden nur nicht weitergetragen und niemand konnte daraus lernen. Tipp: fuck-up talks veranstalten. 15 min, ein·e Sprecher·in berichtet detailliert, wie er/sie etwas mit Ansage und Vollkaracho vor die Wand gefahren hat.

3 — Regelverstöße sanktionieren

Erwünschtes Verhalten muss klar definiert sein. Am Besten schriftlich und in einer Team Charta. Das Team schreibt sich selbst eine Verfassung, ein Protokoll für das Miteinander: wie wollen wir miteinander umgehen, was machen wir Konfliktfall? Allein das gemeinsame Herstellen dieser Charta ist eine vertrauensvolle Übung und lässt Andere besser verstehen. Wie gehen wir um mit unvorbereitet sein, mit zu spät kommen/liefern/reagieren … was ist zu spät? Wie verstehen wir Qualität einer Zuarbeit oder Lieferung? Was tolerieren wir, was akzeptieren wir nicht mehr? Wie wollen wir Veranstaltungen oder Termine planen: gibt es Termine ohne Agenda und zu jedem Termin auch Ergebnisse?

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