digitalien.org — Stefan Knecht

Einfach, komplex, kompliziert — Wie geschieht Organisation?

Was einfach ist, weiss jeder: ‘wenn es leicht geht’.

Aber was ist der feine Unterschied zwischen kompliziert und komplex?

Was bedeutet dieser Unterschied für die Organisation von Arbeit?

Was ‘einfach’ ist, weiss jeder: wenn es leicht geht. Im Sprachgebrauch verwechseln wir gerne ‘kompliziert’ und ‘komplex’. Die saubere Unterscheidung ist nützlich, um aus der richtigen Einordnung einer Situation brauchbare Denk- und Handlungswerkzeuge für Organisation und Führung abzuleiten.

Was dann noch fehlt, um Situationen realistisch zu taxieren und die geeigneten Instrumente zu wählen, kommt gleich hintendrein.

Einfache Kontexte

Eine Currywurstbude operiert nach genauen Anweisungen zur Herstellung ihrer Leckereien. Die Erwartung der Kundschaft ist schlicht und replizierbar: eine Wurst soll genau so fettig und herzhaft schmecken wie die nächste, ein Hamburger ist ein Klon aller anderen, egal ob Montag ist oder Freitag Nacht, morgens um sieben oder an Heiligabend. Also folgen Mitarbeiter den Anweisungen eines minutiösen Rezeptes und das erwartbare Ergebnis ist ein Replikat. Ein Hotdog ist exakt wie der nächste. Genau so soll das sein. Als Frittenbudenkunden erwarten wir Replikation — nicht Variation.

Das Gleiche trifft zu für Zustände in Unternehmen und Organisationen. Tritt ein Zustand ein, geschieht verlässlich eine vorher definierte Reaktion. Genau so, wie Skinners Hund auf den Klang der Glocke mit Speichefluss reagiert. Er kann nicht anders weil er konditioniert ist auf einen Reiz und nach der Glocke die fressbare Belohnung erwartet. Dieses default Verhalten ist der Normalzustand eines funktionierenden Unternehmens. Für einen festgestellten Zustand greift ein Prozess (oder Rezept) und eine Reaktion läuft vorhersehbar in immer gleicher Qualität ab. Das Endergebnis als Resultat eines Rezeptes ist determiniert, vorherbestimmt. Behörden in ihrer zuverlässigen Nachvollziehbarkeit funktionieren also glücklicherweise strukturell wie Imbissbuden. Dieses reibungslose Funktionieren ist das Rückgrat nicht nur jeder Zivilgesellschaft.

Aus den gleichen Gründen gibt es Normen. Eine M6-Schraube soll sein wie alle. Nur dann passen die Schrauben eines Herstellers zu den Muttern eines anderen. Das A4-Format einer Papiermühle kann von allen Druckern verarbeitet werden und ein Stromstecker aus Rügen passt fraglos auch in Berchtesgaden. Bis zur industriellen Revolution und Warenströmen über Ländergrenzen hinweg war es unerheblich, ob etwa Gewinde kompatibel waren: jede Werkstatt, Manufaktur oder angehender Industriebetrieb schnitt Durchmesser und Steigungen der Schrauben und Mutter für seine Maschinen nach Belieben. Es wurden ohnehin nur Einzelteile aus der eigenen Produktion miteinander verbaut. Wurde etwa eine Lokomotive von England nach Belgien verkauft, was soll’s … die Handwerker in den belgischen Werkstätten waren geschickt genug, passende Ersatzteile selbst zu fertigen.

Von den Segnungen der Normierung zurück zur Frage, was ‘einfach’ von ‘kompliziert’ unterscheidet: einfache (Arbeits-)Kontexte können durch eine überschaubare Menge von Anweisungen strukturiert und gesteuert werden:

Einfache Replikation gelingt durch deterministische Rezepte: Inhaltsstoffe, Mengen, Arbeitsabläufe usw. sind klar definiert, das Ergebnis verlässlich von immer der gleichen Qualität.

In einfachen Kontexten sind keine besondere Erfahrung oder Fähigkeiten erforderlich. Mit ein wenig Einarbeitung und einem Rezeptheft kann so ziemlich jede:r das vordefinierte Ergebnis erreichen. Mit mehr Routine erhöht Erfahrung die Erfolgsquote, ist aber nicht unbedingt nötig weil ein penibles Rezept jeden Schritt und Handgriff vorgibt.

Wie an Imbissbuden gibt es auch in Organisationen einfache und deterministische Kontexte, in denen Rezepte, Prozesse oder Arbeitsanweisungen zuverlässig das gewünschte und erwartete outcome produzieren. In der Schadensbearbeitung einer Versicherung bestehen Kunden auf der regelhaften, nachvollziehbaren Abwicklung von Schäden. Es gibt klare und veröffentlichte Regeln der Schadensregulierung. Der Ermessensspielraum oder die Kulanz der Sachbearbeiter hat schmale Grenzen.

In klaren Situationen, bei definierten Prozessen ohne Abweichungen, bei geringer Flexibilität und einfachen Arbeitskontexten haben agile Organisationsprinzipien wenig Vorteile. Vielleicht stören sie eher die Effizienz, da es nichts zu verhandeln oder zu optimieren gibt. Deterministische Planung ist dann genau richtig: Rezepte und ihre disziplinierte Abarbeitung ist in einfachen Umgebungen eine gute Wahl.

Komplizierte Lagen

Die Verkabelung eines Flugzeugs ist kompliziert. Ohne Handbuch dauert es lange herauszufinden, wie alles verbunden ist und welches Kabel an welcher Stelle welcher Art Impuls oder Signal überträgt.

Würde man selbst diese Verkabelung lange genug untersuchen oder re-engineeren, dann könnte man allenfalls mit annähernder Sicherheit sagen, was jeder Schaltkreis bewirkt und wie man ihn steuert: das System ist letztlich verstehbar — der Aufwand dazu vielleicht prohibitiv. Wenn es schneller gehen soll: ja, man könnte auch einfach jemanden fragen, die sich damit auskennt.

Kompliziert bedeutet: nicht einfach, vielleicht nicht in allen Kreuzbedingungen verstehbar aber weitgehend beherrschbar. Für eine komplizierte Aufgabenstellung gibt es meist eine beste Lösung.

Kreuzbedingungen sind aus der Pharmazie bekannt, für nicht-Pharmazeutiker wird das auf dem Beipackzettel übersetzt. Wenn dort steht “… nicht über längere Zeit einnehmen bei gleichzeitiger Einnahme von blutverdünnenden Mitteln”, dann kann (muss aber nicht) durch die verschränkte Wirkung zweier Medikamente ein unerwünschter Zustand eintreten. Zwei Mittel stehen über Kreuz, orthogonal. Das kann kompliziert sein — wenn man sich nicht auskennt. Genau so ist das bei der Elektronik eines Flugzeuges. Für die Mechatronikerin im Montagehangar, die zum wiederholten Male wuchtige Kabelpeitschen im Rumpf verbaut ist das auch mit Routine kein einfacher Vorgang sondern eine komplizierte Aufgabe obwohl sie sich auskennt und ein Montagehandbuch hat: als vieltausendseitigen Ausdruck oder eingespiegelt über ihr head-up display. Ihre beste Lösung ist, genau in der vorgegebenen Reihenfolge und damit dem Montagerezept vorzugehen: nur dann gelangen die Signale zuverlässig an ihren Ort und nur dann kann das Fluggerät zuverlässig gefolgen werden. Und zwar jedes nach Rezept gebaute Fluggerät weil alle identisch sind. Ohne sowohl Kompetenz wie Erfahrung ist das kaum zu schaffen. Wir könnten das nicht. Ebensowenig könnten wir ohne Ausbildung und Erfahrung ein Flugzeug fliegen, Piloten können das. Für jeden Flugzeugtyp braucht es eine andere Ausbildung, neue Erfahrungen und viel Übung in Form von Flugstunden. Als Laien können wir allenfalls und nach langer Beobachtung und mit Hinweisen ansatzweise verstehen, weshalb ein Flugzeug nicht vom Himmel fällt. Die Kompetenz es zu fliegen, die hätten wir kaum.

Merkmale einer komplizierten Situation:

  • Es sind deterministische Protokolle oder Formeln erforderlich, um Teilabschnitte kontrolliert beherrschen zu können.

  • Ist etwas Kompliziertes einmal geschafft und nimmt die Erfahrung zu, dann erhöht das die Wahrscheinlichkeit für die nächste Mission: Übung macht den Meister.

  • Erfolg in komplizierten Lagen hängt von Blaupausen für verschiedene Bauteile und Beziehungen ab, die das notwendige variante Wissen enthalten und in einer Reihenfolge schlüssig zusammengefügt werden.

Komplizierte Kontexte können nicht mehr durch einen einfachen Satz von Anweisungen oder Rezepte erfasst werden. Zur Lösung komplizierter Probleme ist oft eine lange Ausbildung, tiefes Verständnis oder sogar ein ganzes Team von Fachexperten nötig.

Wenn es wichtig ist, genau zu verstehen wie etwas Kompliziertes funktioniert, dann lohnt der Aufwand für Recherche, Beobachtung und Studium, um etwa ein detailliertes Diagramm zu erstellen. In komplizierten Umgebungen kann kaum einer alles wissen. Führung in komplizierten Situation heisst, vor einer wesentlichen Entscheidung Sicht und Rat der erfahrenen Mitarbeitenden und Experten einzuholen. Die Gefahr, etwas Wichtiges ausser Acht lassen, verhängnisvolle Fehler zu machen oder Entscheidungskonsequenzen zu missachten ist größer, je vernetzter und damit einhergehend komplizierter Zusammenhänge und Abhängigkeiten sind.

In komplizierten Kontexten ist ein kooperativer Führungsstil die angemessene Führungsmethode — nicht command and control. Erfahrungen, Wissen und möglichst variante Sichten der Mitarbeitenden sollen gehört und integriert werden.

Mit einer Ausnahme: droht eine komplizierte Lage zu einer chaotischen zu werden, sind Leben in Gefahr oder droht großer Schaden — dann dauert die kooperative Aushandlung möglicherweise länger als die Situation es zulässt. Daher gibt es auf Schiffen, in Flugzeugen und am OP-Tisch einen klar definierten commander in chief, einen Kapitän oder leitenden Operateur. Diese Person muss entscheiden, notfalls alleine und autokratisch. Das ist allerdings vor der Fahrt, dem Flug oder der Operation als Hierarchie ausgehandelt. Bei Wassereinbruch, wenn es brennt oder der Puls ausbleibt ist es dafür zu spät.

Komplexe Systeme

Stellen wir uns vor: Besatzung und Passagiere sitzen im Flugzeug und versuchen vorherzusagen, was während des Flugs geschehen wird. Normalerweise und wenn alles geschieht wie deterministisch geplant und tausendfach geübt und absolviert ist ein Flug nicht viel aufregender als eie Busfahrt. Einsteigen, Kram verstauen, anschnallen. Irgendwann später kommt jemand mit einem Wägelchen vorbei und es gibt Nüsschen und Limo.

Plötzlich wird durch einen technischen Fehler, aus einer normalen, beherrschten Situation eine komplizierte Lage. Wir kriegen davon vielleicht nichts mit während im Cockpit längst eine komplexe Situation eingetreten ist.

Ein Blitzschlag führt zum Ausfall der Bordelektronik, ein Triebwerk muss abgeschaltet werden, dann ein zweites. Als Passagiere und Laien können wir Vermutungen anstellen, doch kaum Sicherheit erreichen: wir wissen nicht, was weshalb geschieht es gibt zu viele Variablen und ihr Zusammenhang bleibt unklar.

Komplex heisst: nicht planbar und erst vielleicht im Nachhinein verstehbar. Es gibt keine Garantie dafür, dass eine Aktion, die in einem Kontext heute richtig ist, auch morgen zu gleichen Ergebnissen führt. Es sind ständig Entscheidungen unter Unsicherheit und Risiko gefordert. Es kann kein Handbuch geben, das zu befolgen ist.

Kennzeichen einer komplexen Situation:

  • Starre Protokolle oder Rezepte sind nur bedingt anwendbar oder gar kontraproduktiv: Bestandteile sind nicht vom Ganzen zu unterscheiden: Beziehungen und Erfahrungen unterscheiden sich zu verschiedenen Momenten.

  • Die Erziehung eines ersten Kindes bringt Erfahrung, aber keine garantiert wirksame Vorlage für das nächste Kind. Erfahrung als Eltern hilft nur, wenn sie die Individualität des nächsten Kindes einbezieht.

Komplexität heißt auch, dass man nie für alle Eventualitäten vorausplanen oder Prozesse vorkonfigurieren kann. Es sind ständig von allen Beteiligten Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit gefordert. In Komplexität kann kein Handbuch geben, das zu befolgen ist.

Was bedeuten komplexe Situationen für Führende und Geführte in Organisationen? Es reicht eben nicht mehr nicht aus, wenn Mitarbeitende die entscheidungspflichtige Führungskraft beraten und diese entscheidet. Mit der überwältigen Fülle an Informationen, Kreuzbedingungen und zu betrachtenden Folgekonsequenzen würde jeder Teamleiter sofort zu einem hoffnungslosen Flaschenhals werden. In komplexen Lagen muss jede Teilnehmende initiativ anderen helfen, ständig Entscheidungen treffen und sie vor allem schnell und unmissverständlich kommunizieren. Das ist schwierig. Leichter wird es, wenn eine gemeinsame Ausrichtung, ein alignment schon besteht bevor etwas Kompliziertes komplex wird: vergesellschaftete Werte, Prinzipien, Ziele und Strategien.Dieses alignment ist die Eingangsbedingung um in komplexen Lagen und wenn hierarchische Entscheidungen zu lange dauern, autonomes Vorgehen unter Unsicherheit zu nutzen.

In komplexen Situationen findet ein selbstorganisiertes, ausgerichtetes Team gemeinsame Lösungen besser als Einzelne.

Komplex? Kinder großziehen.

Starre Protokolle helfen wenig: die Erziehung eines ersten Kindes bringt Erfahrung. Beim nächsten Kind können die Anforderungen abweichen.

Erfahrung hilft — sofern dabei auf die Individualität des nächsten Kindes eingegangen wird. Unsicherheit über das Ergebnis bleibt, da es von vielen inneren und äußeren Faktoren abhängt, die sich der Erziehung entziehen: Bestandteile sind nicht vom Ganzen zu unterscheiden.

Wenn wir uns nun darauf einigen können, dass zwischen den Begriffen einfach, kompliziert und komplex sehr wohl wesentliche Unterschiede bestehen — dann fehlt nur mehr ‘chaotisch’ im Quartett um ein erstes Werkzeug für die Wahl der geeigneten Denk- und Handlungsinstrumente einsetzbar zu machen.

Alles zusammen bringt das Cynefin-Framework, das hilft, einen geeigneten Lösungsweg zu finden.

Quellen

Konzept und Text adaptiert nach: Westley, F., Zimmerman, B., & Patton, M. (2007). Getting to Maybe: How the World Is Changed (Reprint). Toronto: Vintage Canada.