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digitalien.org — Stefan Knecht
Was ist der gemäße Lösungsweg … wenn die Lage einfach, komplex, kompliziert oder chaotisch ist? Und wie ist die Lage überhaupt?
Cynefin [kjunewin] ist das walisische Wort für ‘Lebensraum’. Dem merkwürdig amöbenhaften Graphen konnte man in einschlägigen Informationsblasen kaum entgehen, Wikipedia hilft nicht wirklich weiter.
Also: Wozu soll das gut sein?
Die Beschäftigung mit Cynefin lohnt.
Aus den vielen Einsichten komplexer, adaptiver Systeme näht Cynefin ein sense-making device und hilft festzustellen, in welcher Art Situation sich ein Problemfeld befindet.
Es steckt also alles drin, was Wandel ausmacht … und gut versteckt:
Das auf den ersten Blick spröde Werkzeug stammt aus dem policy-making, der geopolitischen Strategie- und Politikforschung Anfang der 1990er Jahre. Also gerade eine halbe Generation her, vor 20 Jahren.
Der Kalte Krieg war durch, die Globalisierung in vollem Gange, failed states, Machtverschiebungen, Migrationsbewegungen, Krisen und asymmetrische Auseinandersetzungen stellten die bewährten Doktrinen eines halben Jahrhunderts in Frage.
Der Neuartigkeit der Situationen konnte keine bereits bekannte best practice entgegengesetzt werden. Den politischen Entscheidern war unklar, weshalb erprobte konventionelle Ansätze nicht weiterführten, weshalb management as you know it weitgehend wirkungslos blieb oder die Situationen noch verschlimmerte.
»(…) we developed the Cynefin framework, which allows executives to see things from new viewpoints, assimilate complex concepts, and address real-world problems and opportunities.«
Snowden & Boone. 2007
Die Antwort liegt in einer der Grundannahmen der Organisationstheorie des scientific management, es gäbe immer Vorhersehbarkeit und Ordnung in der Welt.
Der Haken:
je komplexer die Umstände werden,
desto eher scheitern Vereinfachungen.
Es musste neu, anders und integrativ gedacht werden.
Jootsing, jumping out of the system war dringend und notwendig … nur wie?
»The answer lies in a fundamental assumption of organizational theory and practice: that a certain level of predictability and order exists in the world. This assumption, grounded in the Newtonian science that underlies scientific management, encourages simplifications that are useful in ordered circumstances. Circumstances change, however, and as they become more complex, the simplifications can fail. Good leadership is not a one-size-fits-all proposition.«
Snowden & Boone. 2007
»(Cynefin) is more properly understood as the place of our multiple affiliations, the sense that we all, individually and collectively, have many roots, cultural, religious, geographic, tribal, and so forth.«
Snowden & Boone. 2007
Nach dem beobachtbaren Verhältnis von Ursache und Wirkung werden Problemstellungen typisiert nach einfach, kompliziert, komplex oder chaotisch.
Gelingt keine dieser Zuordnungen, so liegt eine Störung (disorder) als fünfter Typus vor.
Komplex sind Lebewesen, kompliziert ein Flugzeug: die Bedienung ist erlernbar.
Feuer ist unvorhersehbar chaotisch, ein Fahrrad ist simpel und bei näherer Beobachtung ist die Funktion und Tücke auch nachvollziehbar.
Die roten Begriffe sind dabei, was Cynefin populär machte.
In einer komplexen Situation, in der es keine richtigen Antworten gibt, die Anzahl der Variablen unbekannt ist und sich etwas unvorhersehbar entwickelt — da weiß niemand, was das Richtige ist. Es muss experimentiert werden, ausprobiert.
In einer chaotischen Lage, bei hoher Turbulenz und wenn keine Ursache-Wirkung-Beziehungen erkennbar sind muß schnell gehandelt werden, Gefahr im Verzug.
Zu den bekannten Vorgehensformen good practice und best practice kommen zwei weitere hinzu:
Der Prozess eines Cynefin-Projektes besteht in der Kontextualisierung, dem in-einen-Zusammenhang-stellen subjektiver Glaubenssätze, struktureller kognitiver Denkmuster und -fehler und endet häufig in Überraschung.
Denn es geht um nicht hinterfragte, unbewusste Glaubenssätze und Annahmen darüber ‘wie die Welt funktioniert’. Erst wenn diese gruppendyamisch, mit Positions- und Perspektivenwechseln erkannt werden, können sie auch weichen.
»(…) nearly every contextualization exercise we have seen has ended with expressions of surprise from those participating. They often see, for the first time, patterns that overturn their entrained beliefs about the issue they are considering and about their purpose, goals, and identity.«
Snowden & Boone. 2007
David Snowden vermarktet mit Cognitive Edge ➚ Cynefin auch als kommerzielles Beratungsangebot. Die Begriffe haben sich weiterentwickelt und wurden trennscharfer.
In einem 12-Minuten Video erklärt Snowden selbst den Ansatz.
Kurtz, C. F., & Snowden, D. J. (2003). The new dynamics of strategy: Sense-making in a complex and complicated world. IBM Systems Journal, 42, 462–483. https://doi.org/10.1147/sj.423.0462