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digitalien.org — Stefan Knecht
Prominente Strategieentwicklungsmethoden aus dem Zauberköfferchen der Betriebswirtschaftslehre erscheinen gegen Wardley Mapping wie die Weltsicht von “Die Erde ist eine Scheibe” gegen ein LIDAR-Modell.
Diese Hellsichtigkeit kommt zu einem Preis.
Wardley Maps wie die nebenstehende sind nicht so einfach konsumierbar wie SWAT-Diagramme. Es geht nicht um einfache Wahrheiten sondern um dynamische Wechselbeziehungen vieler Variablen in einer unbekannten Zukunft.
Damit verwundert nicht, dass Wardley Maps nicht als ‘the next big thing’ durch alle Kanäle geistern. Man muss sich reinfuchsen, auseinandersetzen damit, Notation, Codes und Konstrukte verstanden, nachvollzogen und selbst geübt haben — bevor man selbst in der Lage ist, ein eigenes Mapping zu bauen.
Anders als bei Zielbildern (‘da will ich hin’), findet Simon Wardley eine Notation um sich verändernde Wertschöpfungsketten über die Zeit und in wahrscheinliche Zukünfte abzubilden (wie in der Abbildung rechts) . Der Schlüssel dazu ist, alle bremsenden, riskanten und unscharfen Einflüsse mitsamt ihrer Annahmen abzubilden, also Glaubenssätze und Vermutungen offen zu legen und sie rückhaltlos in einer Expertengruppe zu debattieren.
Das gelingt, indem auf einer Wardley Map der veränderliche Pfad von Produktlebenszyklen, Geschäftsmodellen, Branchen, Industrien mit zunehmend vielen Wenns und Abers modelliert wird. Aus einer groben Karte wird mit mehr Informationen, Randbedingungen und Wechselwirkungen ein Modell. Legt man mehrere davon nebeneinander, kann man Muster erkennen, Regelhaftigkeiten erahnen — oder grandios daneben liegen.
Viele Produkte und Geschäftsmodelle starten mit einer Erfindung, einer Entdeckung oder der kostbaren Handarbeit eines Meisters. Die meisterhafte Fähigkeit eines Einzelnen etwas zu bauen, was so gut nur er oder sie selbst kann, nicht jeder. Ein Wettbewerbsvorteil so lange, bis andere imitieren und besser werden.
Jemand stellt also von Hand etwas her und optimiert, macht es besser, passender, gefälliger. Bis es ‘good enough’ ist. Wenn mehr Menschen dieses Etwas haben wollen, wird einfach mehr hergestellt, mit Maschinen, mehr Händen, Kopien oder am Fliessband mit Robotern.
Mit Geschirr ist das so. Wir speisen von Industrieporzellan und töpfern Tassen und Teller nicht mehr selbst.
Wir wüssten nicht einmal, wie das geht.
Viele — nicht alle — Innovationen münden mit ihrer Industrialisierung in einer Allerwelts-commodity. Das haben wir in einer halben Generation mehr als einmal erlebt. Wo das erste Mobiltelefon mit Fotofunktion noch teure Sensation war, ist der Grenznutzen praktisch ausgeschöpft: mit Bauformen und Formfaktoren ist nicht viel mehr heraus zu holen aus den Optiken.
Was bei den ersten Geräten ein entscheidendes Feature war, hat heute jeder Grundschüler in der Schultasche. Mehr Speicher braucht auch niemand. Wo vor nicht zu vielen Jahren eine handvoll eigener Server in einem Rechenzentrum unerhört waren, ist die Cloud und Rechenkapazität um Centbeträge eine commodity, ein ’eh’-da’ wie Luft, Strom und Wasser.
Wie alle Karten sind auch Wardleys Karten notwendigerweise Abstraktionen einer Realität.
Das kennen wir von Wanderkarten, die trotz eines Maßstabes von 1:40.000 als Vereinfachung der Natur eben nicht jeden Steinbrocken zeigen.
Eine Karte im 25-fach größeren Maßstab 1:1.000.000 muss noch drastischer abstrahieren, mehr weglassen und zusammenfassen weil aus Flughöhe eines Verkehrsflugzeuges noch viel weniger Details relevant und erkennbar sind als am Boden.
Je nach use case sind andere Details relevant.
Für Wardley Mapping ist allerdings das schon die erste Einstiegshürde: wo stehe ich, mein Produkt, meine Idee, ‘die Branche’ jetzt wirklich? Was ist der präzise Standort und was die gerade noch akzeptable Unschärfe? Wie sehr kann ich in meiner Verortung daneben liegen, so dass die Karte noch einen Weg weisen kann?
Die Analogie kartografischer Karten mit Wardley Maps geht noch weiter: so wie die Übersichtskarte in 1:1 Mio nützlich ist für die ersten 250 km, wird es die Wanderkarte für die letzten Kilo- und hunderte Meter.
In der Nahorientierung helfen nur mehr die eigenen Sinne. Das ‘hier und jetzt’ sperrt sich einer Kartierung, für die Vergangenheit ist es einfach und für mögliche Zukünfte … schwierig.
Weil alles eine Vergangenheit und Zukunft hat, bewegen sich alle Komponenten auf Wardley Maps von links nach rechts. Jede Aktion (was wir tun) in der Art, wie wir es tun und jedes mental model, das den sinnhaften Zusammenhang abbildet. Zum Einstieg reicht es zu wissen, dass Bewegung und Weiterentwicklung von der Manufaktur zum Allerweltsdienst über Wettbewerb geschieht.
Die erste Übung im Wardley Mapping ist, die eigenen Annahmen offen zu legen und darauf die immer wieder unangenehme Frage zu stellen »Ist das wirklich so?«. Schwer genug. Funktionieren kann das nur in einer Gruppe, in der sich die Erfahrungen überlappen, in einem Unternehmen oder wenigstens einer peer-group. Das kann man nicht outsourcen an Berater oder Experten. Wir selbst sind die Experten für das, was wir tun.
Das wiederum erklärt hinreichend, weshalb einschlägige Berater und Auskenner nicht im Handumdrehen zu Wardley-Jüngern werden: man muss sein Geschäft verstehen, nicht das eines anderen.
Mapping ist damit ein Gruppenprozess unter Fachexperten, ein gruppendynamischer Vorgang. Die wiederkehrenden Fragen nach den eigenen Annahmen sind allesamt token for communication, Gesprächsanlässe wie eine user story. Wardley mapping steht damit in einer großen, wenn auch fast unsichtbaren Tradition von Vorgehensmodellen, die ‘the wisdom of the many’ nutzen, die Weiheit der vielen … wenn sie sich in einer Sache gut auskennen.
»Hic sunt dracones« stammt von den ersten Karten und Globen im sechzehnten Jahrhundert. Auf dem Hunt–Lenox Globe (ca. 1510) hat der Kupferstecher am Rande des aus europäischer Perspektive gerade noch bekannten Erdenrunds neben Seeungeheuern dieses »Hier sind Drachen« vermerkt.
Wenn man schon nicht wusste, was genau da war, gefährlich sollte es schon erscheinen. Irgendwo da sind grauslige Ungeheuer. Obacht!