Haltung ist keine Bedingung
In der Urfassung des Agilen Manifest steht 2001 nichts von einer notwendigen Haltung um agiler miteinander arbeiten zu können. Wie und wann kam das hinzu? Steve Denning1 macht eine Grafik von Ahmed Sidky von 20152 als erste Fundstelle aus und vermerkt, eine passende Haltung solle im Agilen Manifest ergänzt werden.3. Sidky war zu dieser Zeit Präsident des International Consortium for Agile (ICAgile) – einem prominenten US-Branchenverband, der mit Zertifizierungen, Trainings und ‘agile coaching’ (damals) gut gehende Geschäfte betrieb.
Bis 2015 gab es keine Haltung als Eingangsbedingung für agile Praktiken. Nun heisst es …
»Implementing the practices, tools and processes without the Agile mindset, values and principles of the Agile Manifesto is not Agile.«
Mit der normativen Setzung ‘ohne Haltung kein Agil’ wurde etwas absichtlich Leichtgewichtiges zu einer Glaubensfrage, ein vermeintliches Defizit zu einer impertinenten Geschäftsidee: „hast du nicht die passende Haltung, kein Problem – schicken wir Coaches, die bringen dir das bei.“ Natürlich ist das Blödsinn: Methoden und Praktiken funktionieren unbedingt und ohne ein mindset — alles andere wäre Ideologie. Im gleichen Vortrag von Sidky wurde wenige Seiten später ein weiteres Missverständnis verquirlt: es gäbe Menschen mit wachstumsorientierter Haltung und andere, die einfach stehen bleiben: growth und fixed. Doch auch das ist leider haltlos.

2006 hatte die Psychologieprofessorin Carol Dweck eine empirisch nur schwach unterfütterte Theorie zu pädagogischen Lernstilen in einen populärwissenschaftlichen Bestseller4 verpackt. Dweck behauptete, es gäbe zwei subjektive Einstellungen zur eigenen Entwicklung: growth/fixed, wachstumsorientiert oder statisch. In einem ‘fixed’ Selbstverständnis sei die Haltung ‘so-bin-ich-halt’, wodurch man sich nicht aktiv um Weiterentwicklung bemühe. Mit einer Wachstumshaltung sei man stets bestrebt, die eigenen Fähigkeiten durch Lernen zu erweitern. In so einfacher wie falscher Dichotomie lieferte Dweck eine Art impliziter Theorie der Selbstoptimierung und traf mit diesem Begriffspaar in der aufkeimenden New Work/Agilszene auf unerwartete Resonanz. Ein gleichsinniger TED-Talk von 2014 hatte Ende 2020 akkumuliert 12 Millionen views, Anfang 2025 und fünf Jahre später schon fast 17 Millionen. Das ist viel Aufmerksamkeit für ein Phänomen ohne Evidenz. Dwecks “Growth Mindset”-Theorie – unterstellt, dass durch den eigenen Glauben an die eigenen intellektuelle Fähigkeiten sich die Fähigkeiten selbst positiv verändern. Die Daten allerdings sagen fast das Gegenteil: der individuelle Glaube an das eigene Wachstum hat einen geringen oder sogar negativen Effekt auf die messbare Leistung.5
Mehr als 600 Kinder wurden in einem schulischen Kontext getestet, dem Forschungsfeld Dwecks. Festgestellt wurde keinerlei Einfluss auf die Bewältigung schwieriger Herausforderungen, ganz gleich, ob die Kinder glaubten, dass grundlegende intellektuelle Fähigkeiten verändert werden können oder nicht. In zwei weiteren Replikationen mit Universitätsstudenten kam auch nichts heraus.6
»We didn’t see the remarkable results promised in earlier studies and would caution against using this approach in class. Beliefs about basic ability appear unrelated to resilience or progress in school.«
– Professor Timothy Bates School of Philosophy, Psychology and Language Sciences, University of Edinburgh
Ausserhalb schulischer oder universitärer Kontexte7 ist zu Existenz und Wirksamkeit eines growth/fixed mindset nichts förderliches bekannt. Vielleicht kann Carol Dweck ja auch nichts für ein Missverständnis und wurde nur falsch verstanden.8 Wer weiss das schon?
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