Wissen, Glauben und Schrödingers Kühlschrank
Wissenschaft beruht auf Belegen und Kontrollen, nicht auf Glauben oder Vertrauen: man stellt eine Theorie auf und versucht sie mit empirischem Vorgehen zu belegen. Instrumente, Versuchsaufbau, alle Randbedingungen und die gewonnenen Daten mitsamt der angewendeten Statistik sind transparent. So können andere
alles nachvollziehen und prüfen.
Wissenschaft ist logische Analyse.
»Man muss eben kühne Vermutungen anstellen und dann prüfen, so wird man weiterkommen.« — Karl Popper
Schrödingers Kühlschrank illustriert das amüsant:
Wenn ich sage »Im Kühlschrank ist Bier!«, dann den Kühlschrank öffne um meine Aussage zu überprüfen, betreibe ich eine Vorform von Wissenschaft.
Wenn ich hingegen sage »Im Kühlschrank ist Bier!« aber nicht nachsehe, weil ich glaube, dass welches da ist, dann ist das Religion.
Sage ich aber »Im Kühlschrank ist Bier!«, sehe nach entdecke aber kein Bier, schliesse die Tür und behaupte weiter, es sei Bier im Kühlschrank, dann ist das Esoterik.
Wenn kein Bier im Kühlschrank ist, ich die Milch rausnehme und sage »Das wirkt wie Bier! Immerhin stand da mal Bier daneben!« — dann ist es Homöopathie.
Eine gute Theorie ist in der Realität prüfbar und ermöglicht Problemlösung in der Praxis, »erklärt Phänomene (…) und bietet Strukturwissen über die Vielfalt des von ihnen erfassten Phänomenbereiches.«
»Es gibt nichts praktischeres als eine gute Theorie.«
Abseits vom Bier im Kühlschrank verhält sich Wissenschaft also wie
ein Puzzle aus unbekannt vielen Teilen, bei dem die Vorlage verloren gegangen ist — es gibt nur einen momentanen Zustand, kein Zielbild. Jede Studie betrachtet einen kleinen Ausschnitt eines ‘Phänomenbereiches’, wiederholt und prüft ein vorheriges Experiment.
Evidenz entsteht, wenn viele methodisch saubere und unabhängig geprüfte Studien ähnliche Ergebnisse und Interpretationen ergeben. Diese Evidenz hält nur so lange, bis neue Ergebnisse auftauchen und man die Interpretation aktualisieren und vielleicht auch anpassen wird.
Wissenschaft liefert durch kontrollierbare Methoden verlässlichere Erkenntnisse als die Esoterik oder Anthroposophie (…) stellt Zusammenhänge her und zeigt Mechanismen auf, die ein immer besseres Verständnis der Dinge ermöglichen (…) das über bloßes Fühlen, Meinen und Wollen, Spekulieren und Phantasieren hinaus geht (…) weil es prüfbar und rational nachvollziehbar ist.(…) anders als Immunisierung und Dogmatismus, die wir in den Pseudowissenschaften finden.
»Auch die Astrologie macht differenzierte Voraussagen. Sie hat aber kein Instrumentarium, um in der Erkenntnis weiter zu kommen, wenn sich eine Voraussage als falsch erweist.«
Intuition? Auch OK! Muss nur prüfbar sein.
»Die von Metaphysikern als Erkenntnisquelle besonders betonte Intuition wird von der wissenschaftlichen Weltauffassung nicht (…) abgelehnt. Wohl aber wird eine nachträgliche rationale Rechtfertigung jeder intuitiven Erkenntnis angestrebt und gefordert.
Dem Suchenden sind alle Mittel erlaubt; das Gefundene aber muß der Nachprüfung standhalten.« ein Zitat aus dem Manifest des ’Wiener Kreises’ von 1929.
Intuitive wie wissenschaftliche Aussagen sind umso verlässlicher, je häufiger sie in Prüfungen bewährten und je genauer zufällige Einflüsse bekannt sind. Wenn etwa in der Organisationsforschung intuitive Konzepte nicht objektiv-unabhängig prüfbar sind, dann immunisieren sie sich gegen jedwede Prüfung wie Kritik.
Veröffentlicht wir das Neue, seltener leider die fehlgeschlagene Replikation
Die globale Währung einer Wissenschaftskarriere ist der
impact factor, die Anzahl Veröffentlichungen in renommierten Journalen und wie oft die eigenen Ergebnisse von anderen zitiert werden.
Ein Nicht-Replizieren-Können ist keine Nachricht sondern langweilig, fällt unter den Tisch und bringt weder Ruhm noch Reichweite. Wenngleich die Information, dass eine Studie
nicht wiederholt werden konnte so wichtig und informativ ist wie die Replikation. Vielleicht ist am Original nicht viel dran, vielleicht waren andere Zufälle oder Manipulationen am Werk und die Ableitungen sind nicht haltbar?
Publication Bias und
Aufmerksamkeitsknappheit machen das Ringen um Evidenzen nicht einfacher: menschliche Aufmerksamkeit ist endlich und bevorzugt das Spektakuläre vor dem Alltäglichen.
Was lauter schreit, wird eher gehört. »Mann beisst Hund« ist eine Meldung, »Hund beisst Mann« nicht. Es sei denn, der Hund ist selten oder der Mann prominent.
Bei der Planung, Durchführung und Auswertung besonders sozialwissenschaftlicher Studien müssen von den Forschenden viele individuelle Entscheidungen getroffen und dokumentiert werden. Der Vergleich scheinbar ähnlicher Studien ist nicht nur schwierig sondern trägt auch zu einer schlechteren Reproduzierbarkeit bei:
je mehr menschliche Entscheidung und Interpretation in ein Forschungsthema fließen, desto weniger objektiv und sachlich werden die Ergebnisse sein.
Konsensdiskriminierung, False Balance und die Autoritätsfalle
Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim fasst drei wesentliche kognitive Fehlleistungen in der öffentlich-medialen Wahrnehmung zusammen:
Konsensdiskriminierung ist die Unterrepräsentierung eines bestehenden, wissenschaftlichen Konsens. Das rührt aus dem Mangel, sich mit Grundlagen und Methoden zu beschäftigen. So ist das schonungslose Auseinandernehmen und Hinterfragen ein wichtiger und normaler Teil des wissenschaftlichen Diskurses und des
peer reviews.
False Balance ist eine mediale Inszenierung, bei der eine Stimme des wissenschaftlichen Konsens mit einer Außenseitermeinung kontrastiert wird. In der Pandemiedebatte war das als Folge eines immanenten journalistischen Webfehlers laufend zu beobachten.
Die
Autoritätsfalle ist der Fehlschluss, eine Professorin mit zwei Doktortiteln — ohne sich mit ihren Aussagen kritisch auseinanderzusetzen — für vertrauenswürdiger oder verlässlicher zu halten als eine hinreichend informierte Person
ohne akademische Titel.
Missverständnisse über wissenschaftlichen Konsens
Wissenschaftlicher Konsens ist keine diskursive Aushandlung sondern die Evidenz der ‘Mehrheit’ vorliegender Daten. Es geht nicht um die Anzahl Studien zu einer Frage oder um Mächtigkeit oder Volumen erhobener Daten sondern um deren methodische Konsistenz. Die
Beweislast liegt damit bei demjenigen, der dem wissenschaftlichen Konsens widerspricht. Je stärker der Widerspruch, desto stärker müssen die Methoden sein, mit denen man den Widerspruch belegt.
Wissenschaftlicher Konsens verändert sich also mit neuen evidenten Erkenntnissen, die beobachtbare Phänomene besser erklären als zuvor.
»Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und Sie, was machen Sie?« — John Maynard Keynes
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