digitalien.org — Stefan Knecht

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Der Hawthorne-Effekt ist keiner.

Von den vielen Mythen der angewandten Küchen- und Industriepsychologie ist der Hawthorne-Effekt einer der älteren und darf auch ins Altpapier.

Werden Menschen beobachtet, dann verhalten sie sich anders als unbeobachtet.

Die Anwesenheit eines Beobachtenden reicht für andere Ergebnisse, an der Situation muss gar nichts verändert werden.

Im zivilen Leben kennen wir das — es sei denn, wir sind keine Rampensäue, professionelle Influencer oder Marietta Slomka. Sobald es heisst ‘wir nehmen jetzt auf’ oder ‘Lächeln bitte’ stellen wir uns anders an als zuvor, suchen nach der Mikrofonstimme oder der telegeneren Gesichtsseite.

Nun hat das auch ansonsten freundlich-skeptische ‘Office for Science and Society’*) der kanadischen McGill Universität auch den Hawthorne-Effekt pulverisiert. Dieser Beitrag ist ein sanft angereicherter re-write mit Verbeugung.

Was in den Hawthorne-Werken tatsächlich geschah

Vor grob hundert Jahren gab es westlich Chicago die Hawthorne-Werke von Western Electric, ein Fabrikkomplex, der vierzigtausend Menschen Arbeit und Einkommen gab. Hergestellt wurde die Telefonietechnik für den damaligen Monopolisten AT&T. Ab 1924 wurden mit Verbesserungen der Beleuchtung bis zu optimierten Maschinenplätzen Versuche zur Produktivitätssteigerung angestellt.

Die Varianten im Versuchsaufbau wurden allerdings nicht oder nur lückenhaft dokumentiert. Rohdaten gibt es nicht mehr. 1953 und zwanzig Jahre später fand sich der ‘Hawthorne Effekt’ in einem Fachbuch wieder und muss seit dem her halten für alle nicht-kontrollierten und unerwarteten Effekte. Eine Art carte blanche und Datenlumpensammler.

Mehr Störgrößen als Signale

2011 entdeckten dann zwei Forschende auf Mikrofilm wenigstens einige wenige Aufzeichnungen der Experimente in den Hawthorne-Werken. So wurde etwa an Sonntagen die Beleuchtung an Arbeitsplätzen verbessert. Wundersamerweise stieg die Produktivität an Montagen. Kein Kunststück: nach sechs Arbeitstagen und einem freien Sonntag dazwischen ist der Werker montags leistungsfähiger.

Auch ein paar Aufzeichnungen zur Konfektion von Relais tauchten wieder auf. In monotonen zweiunddreissig Handgriffen wurden Relais von Frauen im Akkord zusammengebaut. Neun Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, 300 Tage im Jahr. Zwischen 1927 und 1932 wurden je fünf Frauen vom Arbeitsplatz in einen Testraum gebeten um dort die gleiche Arbeit zu machen – jedoch mit kontrollierter Manipulation der Randbedingungen. Egal, was an den Arbeitsbedingungen verändert wurde: die Leistung stieg und die Fehlerrate sank.

Ein confounder, eine unbeachtete Störgröße mag die wahrscheinlichere Ursache sein. Nicht die Arbeitsbedingungen können die verbesserten Leistungen erklären sondern die Angst vor Arbeitsplatzverlust. Ende 1929 kam es zu den großen Börsencrashs in London und New York, die zur great depression führten. es erscheint einleuchtend, dass die Arbeiterinnen alles taten um nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen zu werden – wie es zwei Kolleginnen geschah. Zwei der Frauen wurden 50 Jahre später befragt und bestätigten, dass sie um keinen Preis zurück an die alte Arbeitsstelle und zu einem übergriffigen Vorarbeiter wollten und sich deshalb so anstrengten.

»Es gibt keinen Hawthorne-Effekt« schliesst auch eine 1989 erschienene Metastudie, die 86 Untersuchungen auswertete.

Wieder ein Mythos weniger.
Es bleiben genug.

*) Im Untertitel gibt sich das Büro die Zeile ‘Separating Sense from Nonsense’.

 

 

 

Referenzen

Adair, John G., Donald Sharpe, und Cam-Loi Huynh. „Hawthorne Control Procedures in Educational Experiments: A Reconsideration of Their Use and Effectiveness“. Review of Educational Research 59, Nr. 2 (Juni 1989): 215–28. DOI.

Festinger, Leon, und Daniel Katz. Research Methods in the Behavioral Sciences. New York: Holt, Rinehart & Winston, 1953. URL.

Gale, E.A.M. „The Hawthorne studies—a fable for our times?“ QJM: An International Journal of Medicine 97, Nr. 7 (1. Juli 2004): 439–49. DOI

Greenwood, Ronald G., Alfred A. Bolton und Regina A. Greenwood. „Hawthorne a Half Century Later: Relay Assembly Participants Remember“. Journal of Management 9, Nr. 2 (1. September 1983): 217–31. DOI.

Jarry, Jonathan. „One of Last Century’s Most Influential Social Science Studies Is Pretty Bad“. Office for Science and Society, 17. Februar 2023. URL.

Jones, Stephen R. G. „Was There a Hawthorne Effect?“ American Journal of Sociology 98, Nr. 3 (1992): 451–68. JSTOR.

Levitt, Steven D., und John A. List. „Was There Really a Hawthorne Effect at the Hawthorne Plant? An Analysis of the Original Illumination Experiments“. American Economic Journal: Applied Economics 3, Nr. 1 (2011): 224–38. JSTOR.

Abbildung: ‘Measuring industrial fatigue, 1920s style. From Hill AV, Living Machinery.’ aus: QJM, Volume 97, Issue 7, July 2004, Pages 439–449, DOI