digitalien.org — Stefan Knecht

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Lernen mit dem Alter

Gespräche mit Georg Sieber

Im ersten Dreiteiler erzählt Georg Sieber auch zu den Umständen des fatalen Attentates bei den Olympischen Spielen 1972.

Das ist lange her: in den Shownotes sind einige Links zu den Geschehnissen.

Das Gespräch mäandert um weitere Themen: 

Was Organisation ist und was Werkzeuge, wie Demonstrationen in den 1960er Jahren organisiert und geleitet wurden, die ‘Münchner Linie‘ als integriertes Einsatzformat. 

Es geht auch um Irrtümer und um Gullydeckel, die von Autobahnbrücken gewuchtet werden. Oder um Niklas Luhmann, der kaum Latein konnte und in Bielefeld stets wusste, wo es das billige Bier gab.

Nebenbei kommen neue Puzzleteilchen der bis heute als Verschlusssache eingestuften näheren Umstände um das PLO-Attentat bei der Sommerolympiade 1972 in München ans Licht. Das von Sieber als ‘Lage 26’ geführte Szenario etwa, von dem es vielleicht doch noch ein Exemplar geben könnte. 

Ebenjenes wird vom SPIEGEL vermisst — was wundert: Sieber hatte beim Verlassen der abschliessenden Sicherheitssitzung sechs bis sieben Wochen vor Beginn der Olympiade zwei Exemplare der  in einem Booklet gebündelten Bedrohungsszenarien an SPIEGEL-Journalisten übergeben.

Diese drei Folgen sind kurzweilig und stellenweise ein historischer Krimi.

Teil 1

Lernen mit dem Alter — Gespräche mit Georg Sieber, Teil 1 von 3 (Aufnahme 22.2.2022)

Georg Sieber traf ich am 22.2.22 in seiner Wohnung in München-Neuhausen.

Sprechen wollte ich über die ‘Münchner Linie’, ein polizeitaktisches Vorgehen bei Demonstrationen, die Sieber in den 1960er Jahren mitentwickelte. In der Vorbereitung auf die Olympiade in München 1972 hatte er in einem von mehreren Szenarien quasi das Startskript des Attentates an die Sicherheitsbehörden geliefert.

Standbild aus dem Film »München 72 – Das Attentat«

Das wollte nur niemand wahrhaben: es sollten friedliche und fröhliche Spiele werden.

Wir streifen weitere Ereignisse, etwa verschwundene Dokumente, die bis heute als Verschlusssachen deklariert sind.

Es wurde ein langes Gespräch. Auch darüber.

In den 1990er Jahren machte ich bei Georg Sieber ein Praktikum. Wir kennen uns also und daher duzen wir uns.

Einige Fragen hatte ich zuvor notiert — doch es kommt ohnehin alles, wie es soll.

Die Audioqualität dieses ersten Teils ist eher mangelhaft: ein Investor kaufte die Busch-Villa, in der Sieber lebt und lässt das Gebäude um seine Wohnung herum luxussanieren.

Während wir sprechen, wird im Stockwerk darüber der Boden geschliffen, irgendwo werden Schlitze gestemmt. Es sind Georg Siebers letzten Wochen in München, dann wird er ausziehen.

Er spricht zu Anfang von ‘einem gewissen Stillstand’.
Ein Kunde seiner psychologischen Dienstleistungen wurde nun so alt wie er.

Sieber ist 87.

Wir lernen einiges.

Etwa, was ‘Organisation’ ist oder eine — zugegeben: etwas ungewöhnliche — Definition des Begriffes ‘Kommunikation’ als Herleitung aus dem Griechischen und was der Staatsphilosoph Machiavelli damit zu tun haben könnte.

»Das Wollen hat man ja im Griff.« sagt Sieber und wir sprechen über Divisionen, Kompanien, Organisation und agiles Führen.

»90% der Leute, die über Organisation reden, schreiben ... kennen das Wort gar nicht.«

Es gibt einige unerwartete Wendungen: 

Sieber kannte Niklas Luhmann und erzählt ein paar Anekdoten. Dass Luhmann nicht wirklich Latein konnte. Dafür aber wusste, wo in Bielefeld es das gute Bier gab. Was er mit der Systemtheorie wollte, das verstand damals niemand, sagt Sieber. 

»Wenn Luhmann in den Raum kam, dann musste man nicht niederknien. Aber so ähnlich.«

Gut angezogen war er, der Luhmann, erinnert Sieber.

In einer weiteren Abschweifung erzählt er von einem Auftrag für ein neues Springer-Printprodukt, die sprachliche Kompetenz der Zielgruppe zu erforschen. Auch interessant.

Teil 2

Lernen mit dem Alter — Gespräche mit Georg Sieber, Teil 2 von 3 (Aufnahme 24.2.2022)

Die zweite Aufnahme geschah am 24.2.22, dem Tag, als Putin die Ukraine überfällt. 

Neben anderen Themen zirkelt das Gespräch immer wieder auf die schier unglaublichen Organisations- und Kommunikationsfehler, entfernt sich davon wieder und streift unerwartete und gänzlich andere Themen.

Sieber ist ein Zeitzeuge und diese Aufnahmen ein kleiner Krimi.

Im diesem zweiten Teil des Gesprächs interessierte mich, wie die kleine Gruppe um Sieber als psychologischer Dienst der Münchner Polizei die Bedrohungslage der Olympischen Spielen 1972 analysierte.

Wie kommt man an die Szenarien, wie validiert und bewertet man sie? Über sprachtechnische Verarbeitung, berichtet Sieber. Was in Polizeiberichten und internationalen Medien steht, wird ausgewertet und katalogisiert. ETA, PLO, IRA … alles, was im Terrorgeschäft Anfang der 1970er Namen hatte, wurde betrachtet.

»Unser Ziel war erstmal gar nichts. Wir wollten nur mitreden. (...) es interessierte nur niemanden.«

Sicher scheint: keines der Bedrohungsszenarien wurde von den Sicherheitsbehörden wahrgenommen. In der abschliessenden Sicherheitskonferenz aller beteiligten Ordnungsabteilungen, ungefähr sechs Wochen vor dem Beginn der Olympiade, wurden alle Stati abgefragt. Nicht aber die Ergebnisse der Gruppe um Georg Sieber.

»Herr Kamerad, das passt nicht in unsere Agenda« wird der Polizeipräsident zitiert. »Waschkörbe und Warnungen von allen Seiten« hätten vorgelegen. Und wurden ebenso ignoriert.

Sieber verteilte die kopierten Booklets an die vor dem Saal wartenden Journalisten. Zwei Exemplare gingen auch an die wartenden Journalisten des SPIEGEL, erinnert sich Sieber.

Ein Krimi, spannender geht kaum.

Das Attentat im Münchner Olympiadorf und die Geiselnahme geschah am 5.9.72 im Auftakt ziemlich exakt so, wie in ‘Lage 26’ auf Grund bekannter Operationsmuster skizziert.

Es gibt einen nachgestellten Film als künstlerische Adaption: »München 72 – Das Attentat«. Mehr in den Quellen und Shownotes.

»Wie das alles genau ablief, ist nicht dokumentiert. Nirgendwo.«

Teil 3

Lernen mit dem Alter — Gespräche mit Georg Sieber, Teil 3 von 3 (Aufnahme 24.2.2022)

Im dritten Teil geht es über das Fiasko eines irrlichternden Fahrzeugkonvois an der Kennedy-Brücke und weitere Kalamitäten um das eskalierende Attentat bei den Olympischen Sommerspielen 1972.

Polizeipräsident Schreiber, Aussenminister Genscher, Innenminister Baum und die israelische Präsidentin Golda Meir hatten offenbar eine bis heute nicht zugängliche Vereinbarung für den Fall, dass Israel im Ausland angegriffen wird.

Da das am grünen Tisch entstandene Szenario so präzise war, gerät Sieber selbst in Verdacht: 

»Der Sieber, der war bei der Planung dabei — das war Täterwissen.« 

Georg Sieber geriet dann bis in die 1980er Jahre wegen dieses abstrusen Verdachtes in die “beobachtende Fahndung”, eine ständige Begleitung aller seiner Bewegungen.

»Wir wissen noch gar nichts. (...) auf sämtlichen Protokollen liegt ein Geheimnisstempel.«

Die Ereignisse führten dann mittelbar zur Gründung der GSG 9.

Quellen und Shownotes

Wikipedia-Page zu Georg Sieber

Protokoll der Ereignisse unmittelbar nach den Ereignissen — »Ich werde heute noch für Palästina sterben« 10.09.1972, DER SPIEGEL 38/1972

Aufarbeitung 40 Jahre nach dem Attentat — »Die angekündigte Katastrophe«. Der SPIEGEL 30/2012, S 35-43, PDF

»Von verschwundenen Akten und wiedergekehrten Erinnerungen«
11.5.2008, Susanne Härpfer, Telepolis

»Prof. Dr. Manfred Schreiber. ehemaliger Polizeipräsident von München im Gespräch mit Hans Oechsner«, Alpha-Forum Sendung des Bayerischen Rundfunks, Transskript der Sendung vom 4.4.2011, 20.15 Uhr, PDF

»Uns war klar, dass es ein Blutbad wird« 5.9.2012 — Zusammenfassung

Filmexcerpt »1972«, 2008. Eine künstlerisch-dokumentarische Auseinandersetzung der Künstlerin Sarah Morris. Georg Sieber wird befragt und gibt seine Sicht der Ereignisse.

»München 72 – Das Attentat«. Spielfilm/Drama, 2012, Dror Zahavi. Streaming u.a. bei MagentaWikipedia 

Documentary Channel »1972: The Massacre: The attack on the Olimpic Camp in Munich« (8:40)

»ABC News 1972 Munich massacre coverage« (7:37)

»Munich« Action-Thriller von Steven Spielberg aus 2005

 

Jingle »Lernen mit dem Alter«

Die Hintergrundmusik des Jingles ist ein Ausschnitt des Swing-Standards »Swing 39« von Django Reinhardt und dem ‘Quintette du Hot Club de France’ mit Stéphane Grapelli. Die Aufnahme stammt vom französischen Trio ‘Latché Swing’ und wird unter einer ‘Attribution-Noncommercial-Share Alike 2.0 France License’ verwendet.