Die Tageszeitung meines Vertrauens fasste die Wirksamkeit gängiger Depressionstherapien zusammen: “es macht keinen großen Unterschied”.1 Therapieformen unterscheiden sich kaum in ihrer Wirksamkeit und sind allesamt nicht wirksamer als unspezifische, unterstützende Therapie (IST)2. Was da geschieht, kennt wirklich jede·r: miteinander Zeit verbringen und den anderen verstehen wollen. Warum wird so gedacht und nicht anders, weshalb dieses Verhalten und nicht jenes? Wechselseitiges Interesse geschieht in gesunden Sozialgruppen von alleine. Ersetzt man als Gedankenexperiment “Depression” durch “dysfunktionales Organisationsverhalten”, dann zeigen sich Parallelen für programmatische Veränderungen in Unternehmen, im Neusprech Transformationen: Methoden machen keinen Unterschied und mildern Symptome allenfalls zeitweise. Dann gewinnt das sozialisierte Verhalten wieder. Auf Dauer und im unternehmerischen Projektmanagement hilft das modische Framework nicht besser als anständiges Sozialverhalten und stetig Miteinander sprechen. Also nicht ‘ansagen’, ‘verkünden’ sondern miteinander sprechen und ein aufrichtiges Interesse an der Sicht Anderer entwickeln, ein ernsthaftes verstehen-wollen. Führende Personen sind mit dieser Haltung fürsorgliche und teilnehmende Gastgeber und Gesprächserleichterer. Als Katalysatoren erleichtern sie angst- wie hierarchiefreie Verständigung. Gelingt das, dann ist die Dysfunktion beseitigt und die Organisation schnurrt wieder. Das ist anstrengend: man darf nur nicht aufhören mit dem Miteinanderreden — wie in einem dieser Thriller, in denen der vollbesetzte Bus keinesfalls stehenbleiben darf. Weiter, immer weiter, nicht nachlassen. Die Qualität programmierter Transformationen hingegen messen Erfahrene nach der Anzahl Kalenderwochen, die ‘die Transformation’ anhält, wenn Berater das Haus verlassen haben. Nur lose antrainiertes Verhalten bleicht ohne ständige Wiederholung leider aus. Alte Gewohnheiten schnappen schneller zu, als Coaches und Change Manager ihre Zugangskarten abgeben können. Die bleibend veränderte Organisation wird zwar als Transformationsergebnis versprochen, in situ beobachtet hat das nur noch niemand.
Hier stolpert der Vergleich mit den untersuchten psychischen Störungen ein wenig, die zu etwa 30 Prozent3 eine einmalige Episode bleiben. Das wiederum erinnert an die Drittelregel des Hippokrates, die Mediziner seit 2500 Jahren lernen: ein Drittel der Patienten braucht keine Hilfe und wird von alleine wieder gesund, ein Drittel braucht Behandlung und spricht darauf an und beim letzten Drittel hilft nichts. Die Glaubensfrage ist also nicht mehr nur “was hilft am Besten” sondern “welches Drittel haben wir vor uns?”
So sagt der Psychiater Michael Linden von der Berliner Charité „Es zeige sich, wie schwer Störungen des Gehirns in den Griff zu bekommen sind. (…) Wer erwartet denn allen Ernstes, dass eine psychische Krankheit, die seit zehn Jahren läuft, nach zwei Dutzend Sitzungen beim Therapeuten wieder in Ordnung ist?”1. Auch diese Parallele von Psychotherapie auf Organisationsveränderung funktioniert wie bestellt: Wer erwartet denn allen Ernstes, dass eine bis ins Mark defekte Organisation nach ein bisschen LeSS, SAFe und Zettelkleben wieder in Ordnung ist? Ernsthaft niemand. Störungsbilder und Störungsbewusstsein erscheinen so verschieden, wie es auch die krankenden Unternehmen sind. Statt nun allen Patienten mit der gleichen Therapie, allen Unternehmen mit denselben Methoden zu helfen, sollten doch passgenaue, kontextsensitive, individualisierte Therapien/Projektmethoden besser wirken? Es stimmt natürlich, dass alle Metaanalysen nur durchschnittliche Effekte ermitteln und Individuum und Kontext ignorieren: “… es geht unter, dass eine Therapie bei einigen kaum wirksam ist, bei anderen aber sehr wohl erhebliche Verbesserung bewirken kann.”4 Genau das prognostiziert die Hippokratische Drittelregel — nur dass auch nach mehr als 100 Jahren Organisationsforschung weder Akademiker noch Praktiker bestimmt sagen können, welches Drittel man im Unternehmen vor sich hat und wie eine individualisierte Therapie aussehen soll. Ist das nicht verrückt? Wir wissen quasi nichts Entscheidendes über die artgerechte Haltung im Arbeitsverhältnis.
Vielleicht sollte man doch dem Hinweis der positiv wirksamkeitsgeprüften acceptance-committment-therapy (ACT) folgen, das Unveränderliche erkennen und sich dann fügen. “Wir bringen ihnen bei, mit Anstand zu leiden” wird der Psychiater Michael Linden zitiert1. Er meint damit allerdings psychisch Kranke und nicht Unternehmen und praktiziert eine “Weishheitstherapie” in der man lernt, Kränkung und Verbitterung besser zu bewältigen. Vielleicht wäre aber genau das ein pragmatischer Ausweg, der ganz nebenbei eine neue Schule der Organisationsentwicklung startet: beratungs- und methodenagnostisch so lange reden, bis alle Seiten einander hinreichend verstanden haben. Wenn das hakt, eine·n Moderator·in helfen lassen. Dann anständig miteinander arbeiten und mit dem gleichen Anstand an den zu ertragenden Umständen leiden. Auf höherem Niveau, also schöner.
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- Weber, C. (20.6.2025). Wie gut helfen Psychotherapie und Medikamente? Süddeutsche Zeitung (online). URL ↩︎
- Kopf-Beck, J., Müller, C. L., Tamm, J., Fietz, J., Rek, N., Just, L., Spock, Z. I., Weweck, K., Takano, K., Rein, M., Keck, M. E., & Egli, S. (2024). Effectiveness of Schema Therapy versus Cognitive Behavioral Therapy versus Supportive Therapy for Depression in Inpatient and Day Clinic Settings: A Randomized Clinical Trial. Psychotherapy and Psychosomatics, 93(1), 24–35. DOI ↩︎
- Cuijpers, P., Miguel, C., Ciharova, M., Harrer, M., Basic, D., Cristea, I. A., De Ponti, N., Driessen, E., Hamblen, J., Larsen, S. E., Matbouriahi, M., Papola, D., Pauley, D., Plessen, C. Y., Pfund, R. A., Setkowski, K., Schnurr, P. P., Van Ballegooijen, W., Wang, Y., … Karyotaki, E. (2024). Absolute and relative outcomes of psychotherapies for eight mental disorders: A systematic review and meta‐analysis. World Psychiatry, 23(2), 267–275. DOI ↩︎
- Brakemeier, E. ‑L., & Herpertz, S. C. (2019). Innovative Psychotherapieforschung: Auf dem Weg zu einer evidenz- und prozessbasierten individualisierten und modularen Psychotherapie. Der Nervenarzt, 90(11), 1125–1134. DOI ↩︎
