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  • Mindset? Haltung? growth-fixed? Keine Bedingung für irgendetwas

    Eine ‘agile Haltung’ sei notwendig, ein mindset um geschmeidig-agil arbeiten zu können? Dafür gibt es so wenig Grundlage wie für das häufig im gleichen Atemzug angebrachte ’growth/fixed mindset’.

    Es mag eine Echokammer geben, in der wiederholt und voneinander kopiert wird — bis niemand wer weiß, woher die Falschmeldung stammt. 

    Im Agilen Manifest von 2001 steht kein Wort von ‘Haltung’ oder englisch mindset. Steve Denning macht eine Grafik von Ahmed Sidky von 2015 als die erste Begriffsnennung aus: 

    Die Bildunterschrift von Sidkys Darstellung führt ein mindset ein:

    »Implementing the practices, tools and proceses without the Agile mindset, values and principles of the Agile Manifesto is not Agile.«

    Bis dahin gab es keine notwendige Haltung: im Agilen Manifest steht nichts davon.

    Im gleichen Zug zu einem agile mindset wird gerne das growth/fixed mindset genannt obwohl beide miteinander rein gar nichts zu tun haben. Wie kommt das? 2006 hatte die Psychologieprofessorin Carol Dweck aus ihren pädagogischen Forschungen zu Lernstilen eine unfundierte Theorie in einen populärwissenschaftlichen Bestseller verpackt. (Lernstile gibt es im Übrigen genau so wenig) Dweck postuliert, es gäbe zwei Haltungsformen growth/fixed, also den Glauben daran, die eigenen Fähigkeiten seien durch Lernen zu erweitern. Ein fixed mindset oder die Haltung ‘so-bin-ich-halt’ sei träger und an persönlicher Weiterentwicklung weniger interessiert. Diese sogenannte “Growth Mindset”-Theorie geht davon aus, dass intellektuelle Fähigkeiten nicht fixiert sind, sondern stark verändert werden können und die subjektive Einstellung entscheidend sei. Ein lose waberndes Bedürfnis traf Weck damit, ihr TED-Talk dazu hat (Ende 2020) 12 Millionen Abrufe.

    Allerdings konnte Dwecks Theorie sozialwissenschaftlich experimentell nicht belegt werden. Mehr als 600 Kinder wurden in dem pädagogischen Setting getestet, für das Dweck die Theorie konstruiert hatte. Festgestellt wurde keinerlei Einfluss auf die Bewältigung von Herausforderungen, ganz gleich, ob die Kinder glaubten, dass grundlegende intellektuelle Fähigkeiten verändert werden können oder nicht. 

    »We didn’t see the remarkable results promised in earlier studies and would caution against using this approach in class. Beliefs about basic ability appear unrelated to resilience or progress in school.« — Professor Timothy Bates School of Philosophy, Psychology and Language Sciences, University of Edinburgh

    In zwei weiteren Replikationen mit Universitätsstudenten kam auch nichts heraus. Ein growth/fixed mindset hat also mit agiler Haltung nichts zu tun, eine Eingangsbedingung für ‘agil’ gibt es nicht: ohne Haltung geht’s auch. Einfach machen und Dazulernen reicht völlig.

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    Bahník, Š. & Vranka, M. A. (2017). Growth mindset is not associated with scholastic aptitude in a large sample of university applicants. Personality and Individual Differences, 117, 139–143. DOI

    Denning, S. (6.7.2016). What’s Missing In The Agile Manifesto: Mindset | Agile Alliance. URL

    Denning, S. (13.8.2019). Understanding The Agile Mindset. Forbes. URL

    Dweck, C. (November 2014). Carol Dweck: Der Glaube an die eigene Lernfähigkeit | TED Talk. Video

    Dweck, C. S. (2008). Mindset: The new psychology of success (Ballantine Books trade pbk. ed). Ballantine Books.

    Li, Y.,& Bates, T. C. (2019). You can’t change your basic ability, but you work at things, and that’s how we get hard things done: Testing the role of growth mindset on response to setbacks, educational attainment, and cognitive ability. Journal of Experimental Psychology: General, 148(9), 1640–1655. DOI

    Manifesto for Agile Software Development. (2001). URL

    Mueller, C. M., & Dweck, C. S. (1998). Praise for intelligence can undermine children’s motivation and performance. Journal of Personality and Social Psychology, 75(1), 33–52. DOI

    Severs, J. (11.4.2020). Growth Mindset: Where did it go wrong? Tes. URL

    Sidky, A. (9.9.2015). The Secret to Achieving Sustainable Agility at Scale. URL

  • Disruption? Nicht überraschend.

    Auf einer Konferenz für Startups irgendwann 2016 wurde erstmals ein Schaubild1 gezeigt, das tausendfach recycled wurde:

    The Digital Disruption has already happened1

    • World’s largest taxi company owns no taxis (Uber)
    • Largest accomodation provider owns no real estate (AirbnB)
    • Largest phone companies own no telco infrastructure (Skype, WeChat)
    • World’s most valuable retailer has no inventory (Alibaba)
    • Most popular media owner creates no content (Facebook)
    • Fastest growing banks have no actual money (Society One)
    • World’s largest movie house owns no cinemas (Netflix)
    • Largest software vendors don’t write apps (Apple, Google)

    Sandy Carter ist nun alles andere als neutral. Im job als ‘Liason-Manager’ geht es darum, aus bestehenden Kunden lukrativere Kunden zu machen. Da gehört es zur Ansprache, ein wenig Unsicherheit zu streuen um als guter Verkäufer die Unsicherheit gleich darauf mit einem sicherheitsstiftenden Angebot zu dämpfen. Es ist auch völlig egal, ob auf diesem slide die Wahrheit getreulich abgebildet ist wenn die Metapher wirkt: die category leader besitzen nichts von dem, wofür sie stehen: Die am schnellsten wachsenden Banken haben kein Geld, der grösste Filmanbieter besitzt keine Kinos. Disruption ist, wenn geschieht, womit niemand ernsthaft rechnete. Wenn Gewohntes unerwartet geschüttelt wird, dass nichts bleibt, wie es angenehm war: verlässlich, zukunftssicher, ein ruhiger Fluß. Enzyklopädien, Lexika, Kartografie: Disruption geschah, als Wikipedia und ‘das Netz’ gedruckten Enzyklopädien das Licht ausbliesen. Das Kindler Literaturlexikon, der Brockhaus, der Duden — alle weggefegt in wenigen Jahren, einem historischen Wimpernschlag. Kartografie in der Darreichungsform gedruckter Karten? Dahin. Google Maps übernahm als klar wurde, dass das mobile Internet mächtiger wird als das Stationäre. Open Streetmap gewinnt.

    Ein hübsches Beispiel ist der Niedergang der Videotheken. Wer jünger ist als … fünfundzwanzig? kann nicht mehr wissen, wie aufwändig es war, sich einen Film zu leihen. Als die boomer schon erwachsen waren, in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts gab es aufwärts von Kleinstädten, in jedem urbanen Viertel mindestens einen Videoverleiher. Zu Hause hatten die Menschen einen VHS-Videorekorder und ein SCART-Kabel breit wie ein Schweizermesser zu ihrem Röhren-Fernseher schwer wie ein Dieselaggregat. Mobiltelefone waren ein Statussymbol, Smartphones waren noch nicht erfunden. Wollte am Wochenende jemand Film kucken, dann musste einer zur Videothek und aus thematisch sortierten Regalen eine sozialverträgliche Auswahl treffen. Selbstständig und ohne live-Dialog. Ganz alleine entscheiden. Dann die speckige Hülle aus dem Regal ziehen und an der Kasse warten, bis eine Aushilfskraft die Kassette aus dem Lager geholt hatte. »Kundenkarte?« — (kram) »… nicht dabei«. Die Rückgabe hatte binnen 24 Stunden zu geschehen, sonst schmälerten empfindliche Verlängerungsgebühren das Medienbudget. (Vielleicht waren die Verzugsgebühren auch der größte Umsatzbringer, wer weiss das heute schon noch.)

    Innenraum einer Videothek, um die Jahrtausendwende (Symbolbild: sie waren alle gleich grausig)

    Blockbuster, einer der damals™ auch international grössten Betreiber, machte 2009 noch einen Jahresumsatz von 4,1 Mrd Dollar und ging im Herbst 2010 in die Insolvenz2. Von 4,1 Mrd Umsatz in 52 Wochen in die Pleite?3 Wie kann das sein? Hat niemand die nahenden Einschläge hören wollen? Hat die Disruption sich nicht ordentlich angemeldet, Netflix zu wenig Werbung gemacht? Dazu muss man wissen, dass Netflix vor dem heutigen all-online-geschäft physisch DVDs per Post verschickte. Das hatte prima geklappt weil es nicht flächendeckend Bandbreite gab. Die Washington Post hat eine interaktive Grafik dazu.4 Man kann dort sein Geburtsdatum einstellen und sieht die Verläufe zum eigenen Alter: “Wie wurden Videos konsumiert?”.

    Washington Post: Wie wurden in den USA Videos konsumiert?

    Eine zweite Grafik ebenda zeigt, welche Art Internetverbindung und Bandbreite US-Amerikaner über die Jahre hatten:

    Washington Post: Art und Bandbreite der Internetverbindung für US-Amerikaner

    So disruptiv war also die Ablösung physischer Verleihstation durch streaming nicht. Wer wollte, konnte sich das ausrechnen.

    Blöd an der heimtückischen Disruption ist: sie meldet sich nicht an, ist plötzlich da und … schwuppdiwupp … ist die Komfortzone weggeschrumpft und der Schmerz schlagartig da. Schaut man sich genauer an, was bislang und scheinbar überraschend weg-disruptiert wurde, dann ist klar: es gibt nichts Singuläres an Disruptionen, es geschieht ständig . Die Frage nur: was noch ändert sich so brutal, dass es unsere Lebenswirklichkeit wahrnehmbar dreht? Ein paar heisse Kandidaten: Filialbanken. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen lebendigen Bankangestellten gesehen habe. Weshalb auch? SIM-Karten. Bargeld. Apotheken. Kinos.

    Radio? Bitte nicht wegdisruptieren.

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    1. Sandy Carter war damals “IBM Liason Manager” und hat gar eine persönliche Wikipedia-Seite. ↩︎
    2. Schamberg, Jörg. US-Videotheken-Kette Blockbuster ist pleite. Zugegriffen 25.12.2017. URL ↩︎
    3. Wobei das nicht ganz korrekt ist: in Alaska gab es im Frühjahr 2017 noch 10 Filialen. Wegen exorbitant teurer DSL-Leitungen — Schmidt, S. (2017, April 26). Blockbuster has survived in the most curious of places — Alaska – The Washington Post. Abgerufen 2.1.2018, URL ↩︎
    4. Fischer-Baum, R. (26.11.2017). What ‘tech world’ did you grow up in? Abgerufen 2.1.2018, URL ↩︎