digitalien.org — Stefan Knecht

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Cynefin als Werkzeug für Entscheidungen

Was ist der gemäße Lösungsweg … wenn die Lage einfach, komplex, kompliziert oder chaotisch ist? Und wie ist die Lage überhaupt?

Cynefin [kjunewin] ist das walisische Wort für ‘Lebensraum’. Dem merkwürdig amöbenhaften Graphen kann man in einschlägigen Informationsblasen kaum entgehen.

Cynefin, stark verkürzt und so kaum zu verstehen

Doch wozu soll das gut sein?

Die Beschäftigung mit Cynefin lohnt: es ist ein Werkzeug um kollektive Entscheidungen zu finden.

Aus den vielen Einsichten aus komplexen, adaptiven und kybernetischen Systemen näht und integriert Cynefin ein sense-making device. Das Vorgehen hilft in einer Gruppendynamik festzustellen, in welcher Art Situation sich ein Problemfeld befindet und wie eine sinnvolle Reaktion geschehen kann.

Cynefin ist ein Framework und kommt aus der Fusion von Forschungen aus der Theorie komplexer adaptiver Systeme, der Kognitionswissenschaft, Anthropologie, der evolutionären Psychologie und ihrer Erkennung narrativer Muster. Es „untersucht die Beziehung zwischen Mensch, Erfahrung und Kontext“ (O’Neill. 2004) und schlägt als Framework neue Praktiken für Kommunikation, Entscheidungs- und Richtlinienfindung sowie Wissensmanagement in einem komplexen sozialen Umfeld vor. Cynefin integriert damit, was auch Wandel in Organisationen und Unternehmen ausmacht:

  • Umgehen mit Ungewissheit

  • Entscheidungen unter unbekanntem Risiko treffen

  • kollektiver Diskurs

  • Transparenz herstellen

Leider erscheint Cynefin ohne weitere Erläuterung und Einbettung in den zeitgeschichtlichen Kontext der Dekade nach dem Ende des Kalten Krieges fast trivial. Das Gegenteil stimmt.

»(…) we developed the Cynefin framework, which allows executives to see things from new viewpoints, assimilate complex concepts, and address real-world problems and opportunities.«

Hintergrund: neue Weltordnungen, neue Krisenformen und keine bekannten Lösungen

Das auf den ersten Blick spröde Instrument stammt aus dem policy-making, der geopolitischen Strategie- und Politikforschung Anfang der 1990er Jahre und damit aus dem gleichen Kontext wie das weitgehend inhaltsarme und redundate New-Work-Schlagwort VUCA. Zur Erinnerung: das ‘C’ für Komplexität reicht völlig aus. Volaltilität, Unsicherheit und Mehrdeutigkeit sind Konsequenzen der Komplexität.

Was war die Lage Ende der 1990er Jahre? Der Kalte Krieg war am Ende, die Globalisierung in vollem Gange, failed states, Machtverschiebungen, Migrationsbewegungen, Krisen und asymmetrische Auseinandersetzungen stellten die bewährten Doktrinen eines halben Jahrhunderts in Frage. Der geballten Neuartigkeit der Situationen konnte keine bereits bekannte best practice entgegengesetzt werden, keine Doktrin aus tiefen Schubladen, kein Masrhall-Plan. Den politischen Entscheidern war unklar, weshalb erprobte konventionelle Ansätze nicht weiterführten, weshalb management as you know it weitgehend wirkungslos blieb oder die Situationen noch verschlimmerte. Nicht entscheiden, nichts machen und abwarten war keine Option, dazu überlagerten sich global die Veränderungen zu sehr, schaukelten sich auf und drohten in noch weniger verstehbaren Umständen zu münden. Bekannte Werkzeuge und Strategien schienen stumpf. Die Politik holte sich Hilfe, wo sie diese kriegen konnte.

Kollektiv verstehen

Mary Boone und David Snowden erkannten, dass dieses Herausspringen aus dem eigenen System, das Verlassen der eigenen Denkmuster und Perspektiven ein Schlüssel für kollektives Verständnis ist — besonders, wenn weder eindeutig noch vergemeinschaftet ist, in welcher Art Situation man sich befindet.

»The answer lies in a fundamental assumption of organizational theory and practice: that a certain level of predictability and order exists in the world. This assumption, grounded in the Newtonian science that underlies scientific management, encourages simplifications that are useful in ordered circumstances. Circumstances change, however, and as they become more complex, the simplifications can fail. Good leadership is not a one-size-fits-all proposition.«

Wie sollten auch sonst Lösungen für Konflikte gefunden werden, wenn die Randbedingungen der Handelnden nicht verstanden sind? Handelnde sind Entscheider, Politiker, Strategen, Militärs und ebenso Aktivisten, Bürger, Menschen — wir alle. In Cynefin als sozialdynamischem Verfahren geht es genau darum, diese disparaten Perspektiven explizit zu machen, anfassbar und damit erst besprechbar.

»(Cynefin) is more properly understood as the place of our multiple affiliations, the sense that we all, individually and collectively, have many roots, cultural, religious, geographic, tribal, and so forth.«

 
Daraus erklärt sich auch der für nicht-Waliser ungelenke Name Cynefin: »(…) als der Ort unserer vielfältigen Zugehörigkeiten, als das Gefühl, dass wir alle, individuell und kollektiv, viele Wurzeln und Stämme haben, kulturelle, religiöse, geografische und so weiter.«
 
David Snowden
David Snowden
Mary Boone
Mary Boone

 

Welcher Art ist eine Situation?

Einfach, kompliziert, komplex oder chaotisch? Oder in einem Grenzbereich zwischen diesen Zuständen? Wie bei der Navigation in unbekanntem Gelände ist das Erste zu erkennen, wo man jetzt ist, den eigenen Ort feststellen. Ohne das hilft keine Karte und auch keine Wegbeschreibung. Cynefin als gruppendynamischer Prozess nutzt die wisdom of the many als Klärwerk und Ideengeber:

Über die Kommunikation einer Gruppe, die Entscheidungen treffen soll, wird ein gemeinsames Verständnis einer Situation erreicht.

Nach dem beobachtbaren Verhältnis von Ursache und Wirkung werden Problemstellungen typisiert nach einfach, kompliziert, komplex oder chaotisch. Gelingt keine dieser Zuordnungen, so liegt eine Störung (disorder) als fünfter Typus des Nicht-Wissens vor, wenn keine Kausalität erkennbar ist. Als Vorgriff: ohne das Wissen um Kausalitäten neigen wir dazu, in die Gewohnheiten der subjektiv selbstzufriedenen Komfortzone zurückzuschnappen. Auf der Grenzlinie zwischen ‘einfach’ und ‘chaotisch’ liegt damit die Katastrophenzone des Scheiterns: wir glauben einfache zusammenhänge zu erkennen, tatsächlich haben wir nur noch nicht die chaotischen Eigenschaften einer Situation verstanden. Uninformierte Entscheidungen können ebenso klappen wie katastrophal enden.

Cynefin mit Erläuterungen

Die Grafik liest sich von ‘einfach’ gegen den Uhrzeigersinn am Besten:

Einfache Situationen haben wiederholbare Muster und eindeutige Ereignisse. Eine klare Ursache-/Wirkung-Beziehung ist erkennbar und es gibt richtige Antworten. Fahrradfahren ist ein Beispiel für etwas Einfaches. Tritt in die Pedale, erzeuge Vortrieb und halte das Gleichgewicht. Wenn du aufhörst mit dem Kurbeln, dann fällst du um.

Kompliziert sind Situationen, wenn Ursache-/Wirkung-Beziehungen zwar vorhanden, doch nicht unmittelbar für jede Beobachterin ersichtlich sind. Ein System ist vorhersehbar doch gibt es mehr als eine richtige Antwort. Es braucht Expertise und Kompetenz um die Lage zu meistern. Ein Flugzeug ist kompliziert und die Bedienung erlernbar. Wenn wir lange genug in einer Cessna mitfliegen, alle Bedienelemente erklärt kriegen und dann selbst Erfahrungen sammeln und angeleitet werden … dann könnten wir das Flugzeug fliegen. Wir müssen dazu nicht unbedingt physikalisch verstanden haben, wie Auftrieb und Flügelformen funktionieren.

Komplexe Umstände haben keine unmittelbar richtigen Antworten, sind nicht vorhersehbar und nicht einmal die Anzahl der unbekannten Variablen ist bekannt. Es können Orientierungsmuster beobachtbar sein. Um in einer komplexen Lage etwas richtig zu machen, sind kreative und innovative Ansätze nötig. Komplex sind Lebewesen wie ein Frosch. Wir können vielleicht biologisch und physiologisch genauestens beschreiben, was einen Frosch ausmacht, wie sein metabolismus funktioniert, wie er sich fortpflanzt und vielleicht kennen wir auch sein komplettes Genom — doch können wir trotz dieser umfassenden Daten keine Vorhersage treffen, wann er <schlump> die Fliege mit der klebrigen Zunge erwischen wird.

Chaotische Situationen haben keine ohne weiteres erkennbaren Ursache-/Wirkung-Beziehungen, hohe Turbulenz und unbekannt viele Variablen. Feuer ist ein Beispiel für chaotische Systeme. In chaotischen Situationen müssen viele Entscheidungen unter Zeitdruck und Unsicherheit getroffen werden.

Wenn der Situationstyp klar ist: mit welchen Praktiken kann eine Lösung gefunden werden?

Cynefin gibt nun heuristische Hinweise zur passenden Methodik der Lösungsfindung — nicht jedoch die Lösung selbst sondern die Varietät und Abfolge der Lösungsfindung.

Cynefin - heuristischer Lösungsweg je nach Situationstyp

In einem einfachen Kontext wie dem Radfahren lautet diese Sequenz erkennen – beurteilen – reagieren. Erkenne, dass nur beim Treten der Pedale Vortrieb geschieht, beurteile oder verstehe das Zusammenspiel aus Gleichgewicht halten und Bewegung und dann reguliere dynamisch die Abweichungen der Variablen. Die roten Begriffe sind dabei, was Cynefin populär machte. In einer komplexen Situation, in der es keine richtigen Antworten gibt, die Anzahl der Variablen unbekannt ist und sich etwas unvorhersehbar entwickelt — da weiß niemand, was das Richtige ist. Es muss experimentiert werden, ausprobiert. Aus Experimenten kann gelernt werden, was zuvor unbekannt war. Mit diesem neuen Wissen kann informierte Reaktion geschehen – bis etwas Neues experimentiert wird und die Schleife erneut startet. In einer komplizierten Lage weisst du schon etwas über Wirkzusammenhänge, du hast bereits analysiert und Unsicherheit reduziert: modifiziere deine Eingriffe vorsichtig, so dass du mehr Sicherheit über das Ergebnis deiner Manipulationen erreichst.

In einer chaotischen Lage, bei hoher Turbulenz und wenn keine Ursache-Wirkung-Beziehungen erkennbar sind muß schnell gehandelt werden, Gefahr im Verzug. Mache irgendetwas nicht ganz abwegiges, erkenne ob dein Eingriff eine Veränderung der Lage bedingte und starte von vorne. Probiere aus, bis irgendein Eingriff in das System irgendeine Änderung beobachten lässt. Vor allem mach schnell, der Druck ist hoch und Zeit hast du nicht.

Zu den bekannten Vorgehensformen good practice und best practice kommen zwei weitere hinzu: die emergent und die novel practice. Eine good practice ist dabei, was häufiger klappt als nicht. Eine best practice ist die unter allen Alternativen von der Expertenmehrheit als bevorzugte markiert. Als emergent practice wird bezeichnet, wenn ein Vorgehen zwar mehr oder weniger bekannt ist, doch im aktuellen Kontext als neue Handlung eingeführt und ausprobiert, vielleicht auch adaptiert wird. Die novel practice hingegen meint das Erfinden gänzlich neuer Praktiken oder Methoden, vielleicht unter Rekombination von Bekannten.

Cynefin - Practices

Wenn es brennt, dann gibt es nur ein sinnvolles Muster: löschen, egal womit.

Was spätestens hier klar wird: Cynefin hat keinen sweet spot, es gibt keine Wertigkeiten von ‘gut’ zu ‘besser’. Die Zustände sind wertfrei und nicht kategorial. Und sie können schlagartig den Zustand wechseln. Aus dem zwar komplizierten Fliegen der Cessna kann nach einem Blitzeinschlag in Sekunden ein chaotisch-turbulenter Zustand entstehen und es muss unter Unsicherheit und Gefahr schnell gehandelt werden.

Cynefin ist ein Framework für diskursive, gruppendynamische Prozesse

Es geht bei Cynefin also nicht um schnelle Zuordnungen sondern um den gruppendynamischen, kommunikativen Prozess des Durchdringens einer Problemlage in ihren Mechaniken, Querverbindungen und abhängigen Randbedingungen um mit diesen Erkenntnissen dann eine geeignete Lösungsmethode zu finden. Der Prozess ist die Kontextualisierung, dem in-einen-Zusammenhang-stellen subjektiver Glaubenssätze und struktureller kognitiver Denkmuster und -fehler, der cognitive biases. Snowden berichtete mehrfach, diese Gruppendynamik münde häufig in Überraschungen. Denn es geht um die noch nicht hinterfragten und unbewussten Glaubenssätze und Annahmen darüber ‘wie die Welt funktioniert’. Erst wenn diese in der sozialen Dynamik einer Gruppe mit Positions- und Perspektivenwechseln erkannt werden, können sie auch einer kollektivierten Lösung weichen.

»(…) nearly every contextualization exercise we have seen has ended with expressions of surprise from those participating. They often see, for the first time, patterns that overturn their entrained beliefs about the issue they are considering and about their purpose, goals, and identity.«

Komplexität und Perspektiven integrieren

Cynefin ist damit …

  • ein sense-making device für unklare, stark dynamischen Situationen, in denen etwas geschehen muss, weil ‘Nichtstun’ absehbaren Schaden bedeuten würde

  • ein Hinweisgeber für geeignete Lösungswege

  • keine Lösungsmaschine sondern hilft die kollektive Wahrnehmung und damit ein geteiltes Verständnis über eine Situation zu finden

Cynefin ist also eine Zwiebel mit vielen Schichten. Schält man die Zwiebel, findet sich im Kern der soziale und gruppendynamischer Vorgang, der hilft, Glaubenssätze und Annahmen über die Welt zu hinterfragen. Damit ist es etwas ganz anderes, als die Verkürzung auf eine vereinfachte Grafik annehmen lässt und eine schöne Startrampe für die Kybernetik.

 

David Snowden vermarktet mit Cognitive Edge ➚ Cynefin auch als kommerzielles Beratungsangebot. Die Begriffe haben sich weiterentwickelt und wurden trennscharfer.

 

In einem 12-Minuten Video erklärt Snowden selbst den Ansatz.

 

Quellen

Kurtz, C. F., & Snowden, D. J. 2003. The new dynamics of strategy: Sense-making in a complex and complicated world. IBM Systems Journal, 42, 462–483.

O’Neill, Louisa-Jayne. 2004. Faith and decision-making in the Bush presidency: The God elephant in the middle of America’s livingroom (Memento des Originals vom 9. Mai 2008 im Internet Archive) Emergence: Complexity and Organisation. Vol. 6, No. 1/2, S. 149.

Snowden, David J., und Mary E. Boone. 2007. „A Leader’s Framework for Decision Making“. Harvard Business Review. In einem 12-Minuten Video erklärt Snowden selbst den Ansatz.

Snowden, D. 2010. Origins of Cynefin: By any other name would (it) smell as sweet? – Cognitive Edge. Abgerufen 25. Dezember 2020, von

Taylor, F. W., Bungard, W., Volpert, W. und Roesler, R. 1995. Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung. Reprint der autorisierten Ausg. München, Oldenbourg, 1913. Weinheim: Beltz, PsychologieVerlagsUnion.